Der kleine Benoni
Die Geschichte hat sich einmal, vor langer, langer
Zeit, in der physischen Welt ereignet. Sie hat sich in diese Welt hinein
erzählt. Und sie ereignet und erzählt sich immer wieder, indem sie von Mund zu
Mund wandert, die Menschen rührt, nachdenklich macht, die Gemüter erregt, später
indem sie aufgeschrieben wird, übersetzt wird, als Gegenstand des Handels und
der Weisheit fungiert, von den Menschen gelesen wird, viele Lehrer und
Schülergenerationen beschäftigt und schließlich in der Jetztzeit landet.
Der Beginn der Geschichte liegt in der Tiefe der Zeit
verborgen, in der Tiefe der Jahre, Jahrzehnte, Jahrtausende. Der Beginn der
Geschichte liegt aber auch in der Tiefe und Dunkelheit der Gedanken und
Erinnerungen verborgen, in der Tiefe der Seele und des Alls.
Vor viertausend Jahren stand das jungsteinzeitliche
Europa an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter, der Bronzezeit. Gewohnt wurde
damals in Holzhäusern, die mit Stroh gedeckt, und deren Wände mit Lehm
verschmiert waren. Die Menschen lebten von der Jagd, vom Sammeln wilder Früchte,
aber auch von Viehzucht und Gartenbau. Gekocht wurde in Keramikgefäßen, aber es
wurde mehr und mehr Gegenstände für den Haushalt, für den Anbau und für die
Jagd aus Kupfer und in der Folge aus Bronze gefertigt.
Die Kunst des Ackerbaus, des Anbaus und der Verarbeitung
von Getreide kam aus dem Vorderen Orient. Dort bestanden damals bereits
staatliche Gebilde, große Städte, die Häuser wurden schon längst aus Stein
gebaut. Es gab Straßen, Handel, eine Schrift und eine einigermaßen kultivierte
und organisierte Religion.
Die Geschichte ereignet sich im Heiligen Land (das damals
genauso heilig war wie heutzutage) und zwar in dem kleinen, sehr alten,
palästinensischen Städtchen Ephrata. Unter den
wenigen, aus Stein und Lehm gebauten Häuschen gab es auch eines, das nicht
bewohnt war, sondern ausschließlich der Lagerung und Verarbeitung des Getreides
diente. Es wurde Haus des Brotes genannt und hat später der ganzen Stadt den
Namen gegeben.
Brot war für die damaligen Menschen lebensnotwendig. Erst
durch die Herstellung des Brotes war die Sesshaftigkeit möglich geworden, und
damit Bevölkerungswachstum und Kulturentstehung. Es stand im Mittelpunkt der
Gedankenwelt und der Religion. Der weg des Getreides wurde mit dem menschlichen
Leben verglichen. Nach Aufhacken und vereinzelt auch Pflügen des Ackers sähte der Bauer die Samen. Nach einer Zeit im Verborgenem sehnt sich der Samen nach Luft und Licht. Im
Frühjahr färben eine Unzahl von jungen Sprößlingen den graubraunen Acker hellgrün. Das Wachsen
geht weiter, die Getreidepflänzchen werden langsam höher, größer und dichter,
aus dem Hellgrün wird ein sattes Grün. Höher und höher wächst der Halm, die
Farbe geht schließlich in ein Gelbgrün über, Ähren werden an den Spitzen
erkennbar, in voller Pracht steht zum Sommeranfang der Weizen. Mit dem
Höhepunkt kommt auch das Ende. Schnitter beginnen die Sicheln zu schärfen, die
Ernte beginnt, Garbe um Garbe wird umgelegt, die Getreidepflanze stirbt durch
die Hand des Schnitters. Er bringt den Tod und gilt auch als Symbol des Todes.
Entscheidend ist aber, daß es
nach dem Tod des Weizenhalmes nicht ganz aus ist. Es gibt ein Dasein Jenseits
des Todes. Die am Boden liegenden Halme und Ähren werden gesammelt, das Korn
wird herausgedroschen und gemahlen, aus dem Mehl wird
das Brot gebacken. So ist das Brot das Symbol für das Leben jenseits des Todes.
Es will uns sagen: auch wenn Du abgeschnitten bist von dieser Welt, es geht ein
Weg weiter, bis Du dorthin kommst, wo dieser Laib da ist, der das Ende des
Weges ist, der die Erlösung ist.
Das Wissen der Pflanze von Weiterleben und Erlösung ist
die Weisheit, die am Anfang schon die Ruhe der Erfüllung kennt. Von Anfang an
ist das Ende schon da.
Diese mystische Zusammenhänge
waren für das Jüdische Volk in Zeiten des Leids und der Not sehr wichtig. So
entstand auch in den Jahren der Babylonischen Gefangenschaft die Sehnsucht nach
einem Erlöser, nach dem Messias. Die Propheten weissagten damals, das dieser Messias einstmals kommen wird und in dieser
Stadt, die sich "Haus des Brotes" nennt geboren wird. Brot heißt auf
Jüdisch "Lechem".
Das Haus heißt auf Jüdisch "Beth". Beth ist der
zweite Buchstabe des Alphabets. Es steht auch für die Zahl zwei. Zwei heißt, daß die Dinge zwei Seiten haben, die Dinge dieser Welt
haben eine irdische Bedeutung und eine Göttliche. Wenn Regen vom Himmel fällt,
so kann man darin einzelne, unbedeutende Wassertropfen sehen, man kann aber
auch den Regen als Geschenk, als Gruß des Himmels an die Erde interpretieren.
Der Regen ist eine Botschaft von oben, ein "Wort" das aus der Wolke
zu uns fällt. Daraus entsteht die Fruchtbarkeit der Erde. Es kommt etwas aus
einer anderen Dimension, etwas, das unbedingt notwendig ist für unser
physisches Leben, für Wachsen und Gedeihen. Ohne diese Wirkung von der anderen
Dimension bleibt die Erde trocken und leer, es fehlt etwas, es fehlt die andere
Seite.
Zwei meint auch, daß diese Welt
eine Welt der Dualität ist. Wo Licht ist, da steht der Schatten gegenüber,
Liebe und Haß wechseln einander ab, ebenso Krieg und
Frieden, Fülle und Nichts, Weisheit und Dummheit, Schönheit und Häßlichkeit, Freude und Trauer, Leben und Tod. Die Dualität
ist Symbol für die physische Welt. Erst durch die Zweiteilung entsteht die
Möglichkeit zu Erkenntnis, es kann aber auch das Gefühl entstehen, das man
Liebe nennt.
Die Göttliche Wirklichkeit existiert außerhalb der
Dualität. Der erste Buchstabe des Alphabets ist das "Aleph".
Es steht für die Zahl eins, für die Alleinheit, für das Licht, das Gott am
ersten Tag erschaffen hatte und das keinen Schatten kennt, das alles
durchdringt. Es ist der Ursprung und der Endpunkt der Schöpfung. Das Urlicht
des ersten Tages ist für uns nicht erkennbar, es ist verborgen in den irdischen
endlichen Dingen. Das Urlicht sieht, wer in dieser Welt das Göttliche erkennen
kann, genauso wie er in der Buchrolle in der Thora, vom Göttlichen lesen kann.
Die Entwicklung beginnt mit der Trennung vom Urlicht und
endet mit dem Wiedereinswerden. Das heißt, daß der Mensch, der ursprünglich dem Göttlichen gleich war
(Adam heißt "ich gleiche"), wieder gleich Gott wird. Dieses Wiedereinswerden ist Glücklichsein schlechthin, aber auch
Bestandteil des irdischen Glücks. Es gibt das Glück der Vielheit und das der
Einheit. das Glück des Getrenntwerdens vom
Göttlichen, und das des wiederverschmelzens. So wie sich
die Schöpfung am Anfang nach Vielheit sehnt, sehnt sie sich am Ende nach
Einheit, und so wie Gott alles in der Einheit hat, so hat die Welt alles in der
Vielheit.
Ein Symbol für das Handeln in der Einheit und das Leben
in einer physischen Vielheit bei gleichzeitiger geistiger Einheit ist die
Biene, jüdisch "Debora". Die Bienen leben in großer Gemeinschaft,
trotzdem handeln sie nicht jedes für sich, sondern stimmen
ihr Tun aufeinander ab. Erst mit dieser Haltung gelingt ihnen der
systematisch Bau von Waben und die gemeinsame Herstellung von Honig.
Im Gegensatz dazu gibt es die Fliegen, jüdisch "Sebub", die, trotzdem sie Schwärme bilden können,
jeweils für sich leben, keine wirkliche Gemeinschaft miteinander haben und
keine Kulturleistung wie die Waben und den Honig zustandebringen.
Sie sind auch Symbol des Teufels, jüdisch "Baalsebub",
also "Herr der Fliegen". "Mein" bedeutet das Wasser und die
Zahl vierzig. Wasser steht für Ursprung aller Dinge im Physischem,
für die Wurzel des Lebens, für die Mütterlichkeit, für die Gebärmutter, durch
die Leben möglich wird, aber auch Erbarmen, Barmherzigkeit.
"Taph", die Zahl 400,
ist die letzte Zahl und der letzte Buchstabe. Mit ihm wird die Welt des
Kausalen verlassen, der Mensch steht an der Schwelle zum Jenseits. Weil der
Mensch nur ungern den Weg des Kausalen verläßt,
bedeutet dieser Schritt auch Leid und Bedrängnis. Taph
ist aber auch der Buchstabe des Aufbruchs und der Wachsamkeit. Es gibt Bezüge
zum Passahfest, zum Auszug aus Ägypten, das Brot wird ungesäuert verzehrt, es
ist nur Hülle, der Inhalt nämlich der Sauerteig, wird für die andere Zeit
aufgehoben.
Jetzt zur Geschichte. In jenen Tagen näherte sich in den
Abendstunden vom Norden her eine Karawane der Stadt Ephrata.
Oberhaupt war der Patriarch Jakob, mit ihm zogen seine vier Frauen, seine zwölf
Kinder, sowie Knechte und Mägde, es gab Transporttiere für die Habseligkeiten,
für Zelte und Werkzeug. weiters auch eine große Viehherde mit lauter
gestreiften Ziegen und Schafe. Jakobs Lieblingsfrau Rachel war hochschwanger.
Es setzten die Wehen ein, an ein Weiterreiten war nicht zu denken, das Ziel,
die Stadt Ephrata noch zu erreichen wurde aufgegeben
und unter freiem Himmel ein Lager errichtet.
Für Rachel bauten die Männer ein Zelt und ein Ruhelager,
eine Wehmutter und noch andere Frauen wurden als Beistand herbeigerufen. Es
setzte ein Beten und Klagen ein, alle Götter und Nebengötter wurden zu Hilfe
gerufen. Die von Rachel von ihrem Vater entwendeten Hausgötter aufgestellt.
Auch Jakob betete zum Gott seiner Väter um ein glückliches Ausgehen der Geburt,
umso mehr als er wußte, daß
Rachel sehr zartbesaitet war, nur schwer schwanger
wurde und die Geburt ihres ersten Kindes, nämlich Joseph, eine langwierige und
leidvolle Angelegenheit war.
Die Sonne ging schließlich unter, Nacht breitete sich
über Jakobs Lager, die Geburt ging nur sehr langsam voran, die Wehen wurden
aber immer schlimmer, Rachel immer erschöpfter. In einer Wehenpause fragte
Jakob sie, welchen Namen man dem Kind geben sollte, falls es ein Knabe ist.
Rachel antwortete "Benoni", das heißt
"Kind des Todes", offensichtlich in sich bereits ihre erlahmende
Lebenskraft spürend und ihr Ende erahnend. Entsetzt und entrüstet wollte Jakob
sie zu einem anderen Namen überreden, doch sie beharrte bei ihrem Wunsch. Es
waren schon die Stunden nach Mitternacht, als es Rachel endlich gelang mit
letzter Anstrengung, unter gleichzeitigem Schieben, Drücken, Ziehen der
Hebammen und unter allgemeinem Gegreisch und Geschrei
das Kind zur Welt zu bringen. Es war wie vorausgeahnt, ein Knabe. Doch Rachel
konnte sich seiner nicht mehr erfreuen. Zu sehr war sie durch die Anstrengung
und durch den folgenden Blutverlust geschwächt. Nur noch aus der Ferne nahm sie
das Weinen ihres zweiten Sohnes war. Müde und erschöpft, mit einem zarten
Anflug von einem Lächeln auf ihren Lippen verschied sie, gerade in dem
Augenblick, als sich die ersten Sonnenstrahlen aufmachten, um vom Osten her den
Tag zu erhellen. Das Geschrei der Hebammen ging nahtlos über in das Heulen der
Klageweiber.
Voll Trauer weinte auch Jakob. Ein Grab wurde ausgehoben,
die tote Rachel hineingelegt und mit Steinen bedeckt. Für die Juden ist jene
Gegend nördlich von Ephrata noch heute ein
geheiligter Boden, wissend, daß dort irgendwo eine
ihrer Urmütter begraben liegt.
Jakob hat seinem Sohn nicht den Namen Benoni
gegeben. Es war ja damals die Zeit des Patriarchats, das heißt, daß die Männer noch das Letzte Wort hatten. Er nannte sein
Kind Benjamin, das bedeutet "Sohn der Mamma",
und damit ist er auch der Nachwelt überliefert worden und in die Geschichte
eingegangen.
Nur am Rande sei erwähnt, daß
dieses Ephrata, das spätere "Haus des
Brotes", zweitausend Jahre später erneut wegen einer Geburt vor den
Stadtmauern von sich reden machte. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.
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