Nicht jeder kann sehen, nicht einmal mit seinen
physischen Augen. Das ist ein trauriges Karma und daran müssen wir als
Yoga-Schüler immer wieder denken. Ich kann sehen, nicht nur mit meinen
physischen Augen, sondern auch schon ein wenig mit meinem geistigen Auge. Aber
ich spreche jetzt zu denen, die mit den physischen Augen sehen.
Ich kann sehen!
Was alles? Alles, was in mich hereintritt. Wenn ich
auf einem Aussichtsturm wäre, was kann ich da alles sehen? Und was habe ich da alles
schon gesehen? Alles ging in die Augen hinein; Wälder, Wiesen, Dörfer, Felder,
Berge usw.
Wenn ich darüber
nachdenke, wie ist das möglich? Und ich denke jetzt an die Fülle dessen, was
ich je in meinem Leben gesehen habe. Welche Welten sind in mich getreten! Ich
habe das Meer gesehen und die Sonne wie sie auf- und untergeht, ich habe die
Wolken gesehen wie sie über den Himmel gleiten und Regen, Gewitter, Sturm.
Freundliches habe ich gesehen und weniger Freundliches. Und welche Menschen
habe ich gesehen. Viele Menschen und auch große Menschen: Künstler, Starzen, Heilige, Weise und Yogis.
Das alles wurde mir geschenkt, ich weiß es.
Was wäre, wenn
ich so geboren wäre, daß ich blind bin? Nur was ich
durch Tasten und was ich durch Hören wahrnehme, ist für mich zu erkennen. Ein
Blinder: keine Farbe, keine Landschaft, kein sichtbares Ereignis, und vor
allem: kein Angesicht. Keinen Himmel, keine Blume.
Und wenn ich so
darüber nachdenke im Yoga und meditiere, alles was ich gesehen habe im Leben
ist mir doch geschenkt! Dafür muß ich sehr dankbar
sein. Ich kann mir auch alles wieder hervorrufen: die Bilder des Ashrams meines
Lehrers. Die vielen Wohnungen, die ich bewohnt habe und aus denen ich
ausgezogen bin oder die ich verlassen mußte. Viele
Straßen, viele Länder, auch Ferienlandschaften. Viele Antlitze und sehr sehr viele Kunstwerke. Wenn ich also so über das Sehen
nachdenke und meditiere, dann weiß ich: ich bin beschenkt! Unermeßlich!
Von wem? Woher?
CHRISTUS, CHRISTUS ALLEIN
Ich kann auch
hören! Ich höre Geräusche, Töne, Musik. Worte - Worte? Nein. Dichtungen!
Lebensäußerungen, Herzensäußerungen! Zum Beispiel : wieviele Konzerte, wieviele
Orgelkonzerte, z.B. Bach, wieviele Symphonien habe
ich gehört (die schönste war die von Schweitzer im Ausland) Klänge, Harmonien,
Rhythmen. Ein Kunstwerk hat sich aufgebaut in meinen Ohren. Und bei all diesen
Konzerten und Symphonien habe ich nur das Innere gesehen, die Meister, ich kam
mit ihnen voll in Berührung. Das sind unbegreifliche Wunder wenn wir darüber
nachdenken, meditieren. Ich kann alles sprechen hören, einen Vortrag, Gedichte.
Biographien großer Menschen und es steigen Sprachgestalten auf. Vor mir sind
Sätze und die Sätze sind getragen von Lauten, Geräuschen, Klang, Stimmen.
Unsichtbar kommt dies zu mir und in mir höre ich das Wort :
bhakta, das Wort: CHRISTUS!
(Anm.: Die spirituelle Liebe, das göttliche Licht!)
Ich versuche mir
nur vorzustellen, daß ich nicht hören kann. Ich
versuche mir vorzustellen, ich sei taub. Wie ist das?
Ich kann es mir
sehr gut vorstellen! Ich sehe um mich nur Mundbewegungen, aber ich höre gar
nichts! Menschen tauschen sich aus, aber ich, ich bin ausgeschlossen. Ich sehe
einen Menschen, er ist mir symphatisch. Zwischen ihm
und mir ist aber eine Mauer, denn ich bin taub. Ich kann nicht hören, was er
mir sagen will. So wendet er sich von mir ab. Und jetzt sehe ich in meiner
Vorstellung einen großen Geiger. Ich beobachte das Streichen des Bogens, die
Bewegungen der Finger auf den Saiten, aber zu mir kommt nichts herein! Ich bin
taub!
Wenn wir beides
nun betrachtet haben in dieser Vormeditation: Welche Fülle ist mein Sehen,
welche Fülle ist mein Hören! Aber was sehe ich schon von dir. Von dir, der du
jetzt neben mir sitzt, von dir, der du mir täglich begegnest, oder alle paar
Tage. Findet wirklich eine Begegnung statt?
Was sehe ich
schon von deiner großen Lebenserfahrung, die dich zu dem gemacht hat, was du
vielleicht ein wenig vor mir verbirgst. Was sehe ich von deinen großen, stolzen
Plänen, den vielen Enttäuschungen, die du hinnehmen mußtest
im Laufe deines Lebens, und von den unzähligen Malen, da du dich aufgerafft
hast voller Idealismus und Optimismus. Was sehe ich von den vielen furchtbaren
Erlebnissen? Voll Angst, die deine Seele durchmachen mußte,
die dir immer wieder den Mut abgekauft haben und dich davon abhielten, dich
ganz und vollkommen frei von Angst zu öffnen und zu entfalten? Kann ich
wirklich das alles sehen? - Kann ich dich sehen?
Kann ich dich
hören? Wie oft haben wir schon Worte gewechselt. Worte, Argumente, Ideologien, Erkenntnisse,
Worte, leere Worte. Es gab eine Zeit, da glaubte ich noch an Worte.
Aber du, der du
mir doch eigentlich so nah bist. Der du die gleichen seelischen Erlebnisse
durchmachen mußt wie ich, der du das gleiche erleben mußt. Du, der du das gleiche tun mußt,
suchen mußt wie ich.... Mensch zu werden. Warum
dringen deine Worte nicht bis zu meiner Seele? Warum kann meine Seele sich
nicht dir eröffnen, damit du sie ganz siehst und wir erkennen, daß wir das Gleiche sind und uns nicht voreinander fürchten
brauchen. Warum reißen wir dann nicht die Mauer der Angst zwischen uns ein und
lassen unser Inneres sprechen, sodaß wir auf
Definitionen und Ideologien und alles was uns trennt verzichten können?
Ich bin fast taub
und recht blind. Wann werde ich jeden Menschen verstehen können.
von Guru Ananda (+ 1985)
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