Gleichnisse, Legenden
und Märchen
Die gutherzige Schlange
Junge Kuhhirten ließen ihre Kühe auf einer Weide grasen, auf der eine giftige Schlange lebte. Alle
hatten Angst vor ihr. Eines Tages ging ein Brahmachari über die Wiese. Die Jungen liefern zu ihm
und sagten:" Geht nicht diesen Weg, da lebt eine giftige Schlange." "Was ist mit ihr? ", fragte der
Brahmachari. "Ich habe keine Angst vor Schlangen, ich kenne einige Mantras." Er ging über die
Wiese, aber die Kuhhirten gingen vor Angst nicht mit. Als die Schlange mit erhobenem Haupt auf ihn
zukam, sprach er ein Mantra, und die Schlange lag wie eine Regenwurm zu seinen Füßen. Der
Brahmachari sagte:" Warum richtest du Unheil an? Ich werdet dir ein heiliges Wort geben. Wenn du
es wiederholst, wird deine Heftigkeit dich verlassen, und du wirst Gott erkennen." Er gab der
Schlange das heilige Wort und weihte sie in das spirituelle Leben ein. Die Schlange verneigt sich vor
ihrem Lehrer und fragte: "Wie soll ich die spirituellen Übungen durchführen? " "Wiederhole das
heilige Wort ", sagte der Lehrer," und füge niemandem Schaden zu. "Beim Fortgehen sagte er: "Ich
werde dich wiedersehen."
Einige Tage vergingen, und die Kuhhirten merkten, daß die Schlange nicht mehr biß. Sie warfen mit
Steinen nach ihr. Statt zornig zu werden, benahm sich die Schlange wie ein Regenwurm. Darauf
gingen die Jungen dicht heran, ergriffen sie beim Schwanz, schlugen sie mehrmals auf den Boden und
warfen sie fort, da sie glaubten, sie sei tot.
Nach ungefähr einem Jahr kam der Brahmachari vorbei und fragte nach der Schlange. Die Kuhhirten
sagten ihm, sie sei tot. Er schenkte ihnen keinen Glauben. Erging zur Wiese, suchte umher und rief
sie bei dem Namen, den er ihr gegeben hatte. Als sie die Stimme ihres Lehrers vernahm, kam sie aus
ihrem Loch und verneigte sich ehrfürchtig vor ihm. "Wie geht es dir?" fragte der Brahmachari. "Es
geht mir gut", sagte die Schlange. "Aber warum bist du so mager?" fragte der Lehrer. Die Schlange
erwiderte: "Ihr habt mir befohlen, niemanden zu verletzen, daher habe ich von Blättern und Früchten
gelebt. Das hat mich wohl so abmagern lassen."
Die Schlange war gutherzig geworden und konnte niemanden mehr böse sein. Sie hatte völlig
vergessen, daß die Hirten sie beinahe getötet hätten.
Der Brahmachari sagte: "Es kann nicht allein der Mangel an Nahrung sein, der dich in diesen Zustand
gebracht hat. Es muß einen anderen Grund haben. Denk einmal nach! "Da erinnerte sich die
Schlange, daß die Jungen sie auf den Boden geschleudert hatten und sagte: "Ich erinnere mich jetzt;
die Hirten haben mich heftig auf den Boden geworfen. Schließlich konnten sie ja nicht wissen, daß
ich mich so sehr verändert habe und niemanden mehr beiße oder verletzte." Der Brahmachari rief
aus: "Welch eine Schande! Was bist du für ein Narr! Du kannst dich nicht einmal beschützen! Ich
habe dir aufgetragen, nicht mehr zu beißen, aber habe ich dir das Zischen verboten? Warum hast du
sie nicht durch Zischen verscheucht?"Aus: "Ramakrishna - Das Vermächtnis" (S. 90 - 91) O.W.Barth Verlag
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