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YOGA im
Westen
Bei aller Aufgeschlossenheit gegenüber den
Einstellungen und Voraussetzungen des Westens, eines war und blieb für Vivekananda
- und für das Gros der indischen Yogins - unbestritten: das spirituelle Ziel
des Yoga. Yoga allein zur Entspannung und körperlichen Fitness war den
meisten Indern zu jenem Zeitpunkt (noch) völlig unbekannt. Auch die ersten
Yoga-Praktiker im Westen teilten diese spirituelle Orientierung des Yoga.
Wir wissen, dass Yoga heute für die
allermeisten Menschen in Mitteleuropa zunächst eines bedeutet: Körperübungen,
Atempraktiken und Entspannung. Diese (Um-)Orientierung des Yoga - hin auf
eher materielle Zwecke und alltags-praktische Nützlichkeiten, die ich in
meiner Dissertation als Utilisierung des Yoga bezeichnet habe - ging
natürlich schrittweise von statten. Sie begann im Grunde schon vor dem ersten
Weltkrieg mit den einschlägigen Schriften von H.W. Bondegger oder von Max
Wilke, um nur zwei namhafte Vertreter dieser Richtung zu nennen. Und sie
setzte sich fort, als nach 1920 immer mehr Psychologen und Mediziner damit
begannen, die verschiedenen Körper- und Geistes-Techniken des Yoga nach den
Kriterien moderner westlicher Wissenschaft zu prüfen und - zumindest in
großen Teilen - für nützlich zu befinden.
Bekanntestes Beispiel dieser
Nutzbarmachung des Yoga auf wissenschaftlichem Hintergrund ist die Arbeit des
Nervenarztes Johannes Heinrich Schultz (1884 - 1970). Als dieser ab
1920 sein Autogenes Training entwickelte, ließ er sich maßgeblich von
Yoga-Praktiken inspirieren. Ja Schultz ging sogar so weit, in einem Artikel
von 1932 zu betonen, dass Teilbereiche seines Autogenen Trainings ohne
weiteres als "physiopsychologisch rationalisierter und systematisierter
Yoga bezeichnet werden" dürfen.
Die dynamische Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg tat dann ein Übriges,
um die Verwestlichung und damit die Säkularisierung des Yoga zu fördern. Als
mit den telegenen Yoga-Turnübungen von Kareen Zebroff im ZDF ab Ende 1973 der
endgültige Yoga-Boom ausbrach, sah die Mehrzahl der Bundesbürger im Yoga
längst ein exotisches angehauchtes Entspannungs- und Fitness-Programm. Die
Anhänger und Befolger einer eher auf das Geistige und Spirituelle
orientierten Yoga-Praxis blieben seither in Mitteleuropa in der Minderzahl
(=> SOLARIS Yoga-Kreis).
Swami Vivekananda und die vier großen Yoga-Wege
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Wir machen einen großen Sprung in der
indischen Yoga-Geschichte und gehen zum Ende des 19. Jahrhunderts. Genauer
gesagt: Wir schreiben das Jahr 1893. In Chicago tagt das
"Weltparlament der Religionen". Auf dieser Veranstaltung betritt
ein junger Inder die Bühne, der als offizieller Vertreter des Hinduismus
sprechen soll, der aber durch seinen Auftritt zum geistigen Botschafter
ganz Indiens avanciert: Swami
Vivekananda (1863 - 1902), bis zu jenem Datum nur einer Handvoll
von Westlern bekannt. Vivekananda hält eine Rede, die - so berichten Augenzeugen
- in Amerika einschlägt wie eine "Bombe". Er fordert in dieser
Rede seine indischen Landsleute dazu auf, sich wieder stärker auf ihr
eigenes kulturelles Erbe zu besinnen und sich nicht mehr hinter den
Errungenschaften der westlichen Kultur zu verstecken. Und er spricht hier
und in weiteren Vorträgen vor allem auch über Yoga. Vivekananda spricht
über die indische Yoga-Tradition und ihre vielfältigen Erfahrungen und
Erkenntnisse. Dabei weiß er genau, wovon er spricht. Ist Vivekananda doch
einerseits Schüler des berühmten indischen Yogis Sri Ramakrishna (1834 - 1886) und
andererseits ein westlich gebildeter Inder, der auch die Schule des
kritischen, diskursiven Denkens durchlaufen hat.
Eine besondere Leistung Vivekanandas
liegt sicherlich darin, dass er ein - wenn nicht der - Wegbereiter für die
Übernahme des Yoga in den Westen war. In den zahlreichen Vorträgen, die er
- nach seiner berühmten Rede - bei einer Reise durch die Vereinigten
Staaten hielt, führte er viele westliche Sucher aber nicht nur näher an den
indischen Yoga heran. Vivekananda entwickelte auch das Konzept der vier
großen Yoga-Wege, die - seiner Erfahrung nach - für alle Menschen gangbar
sind. Es sind dies im einzelnen:
- der Karma-Yoga (der Yoga des [selbstlosen]
Tuns)
- der Jnana-Yoga (der Yoga der [spirituellen]
Erkenntnis)
- der Bhakti-Yoga (der Yoga der [selbstlosen]
Liebe) und schließlich
- der Raja-Yoga
(der "königliche" Yoga, der Yoga der Beherrschung)
Während uns die drei ersten Wege
(margas) bereits aus der Bhagavadgita, einer auch im Westen bekannten und
vielgeschätzten Schrift (ca. 300 v. Ch. bis 300 n. Ch.) bekannt sind,
bezeichnet der Begriff "Raja-Yoga" bei Vivekananda - und in
seinem Gefolge - den klassischen achtgliedrigen
Yoga-Pfad Pataijalis, wie ich ihn beschrieben habe.
Der fünfte große Yoga-Weg, der sich spätestens seit dem 13./14.
Jahrhundert in Indien etabliert hatte, ist der sogenannte Hatha-Yoga
(wörtlich: Yoga der Kraft/des Impulses). Dieser Zweig des Yoga fußt auf der
Weltsicht und dem Menschenbild des indischen Tantrismus. Das bedeutet, dass
im Hatha-Yoga der Körper nicht nur eine stoffliche Hülle oder ein bloßes
Werkzeug ist (wie in früheren Texten beschrieben), sondern dass der Körper
hier als eine wunderbare Möglichkeit gilt, unser Leben durch sinnliche
Erfahrungen zu bereichern. So können nun auch aus der einen Körperhaltung
(asana) bei Pataijali die vielen Körperhaltungen (asanas) des Hatha-Yoga entstehen,
die wir heute im Westen kennen (und schätzen).
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Yoga in Deutschland
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Richten wir einen kurzen Blick auf
die moderne deutsche Yoga-Szene. Wahrscheinlich können heute mindestens
drei Millionen Bundesbürger zum Kreis der Yoga-Übenden gerechnet werden.
Interessant dürfte für viele vor allem eine Zahl sein: Rund 80% der
SchülerInnen und LehrerInnen im deutschen Yoga sind Frauen! Das
erstaunliche an dieser Zahl ist: Weder ein anderer mitteleuropäischer
Staat, noch gar Indien - das Ursprungsland des Yoga -, weist einen derart
hohen Frauenanteil unter den Yoga-Praktikern auf. Die Gründe für dieses
deutsche Spezifikum sind vielfältig und können hier nicht näher erörtert
werden.
In den letzten Jahren sind in der
deutschen Yoga-Szene einige recht interessante Entwicklungen zu beobachten.
An herausragender Stelle stehen hierbei die Bemühungen verschiedener
Institutionen, ihre Ausbildung von Yogalehrerinnen und Yogalehrern dem
hohen Anspruch und Niveau des traditionellen Yoga anzugleichen. Besonders
einige private Yoga-Schulen, von denen es mittlerweile über 200 in ganz
Deutschland gibt, und der Berufsverband der Yogalehrenden in Deutschland
e.V. (BDY) bemühen sich seit Jahren um
die Sicherung und Vereinheitlichung von Qualitätskriterien für die Ausübung
einer Yoga-Lehrtätigkeit. Der BDY, der im Juni 1997 sein 30jähriges
Jubiläum mit einem großen Yoga-Kongress in Berlin feiern konnte, baute sein
Ausbildungskonzept auf dem sogenannten "Europäischen
Basis-Programm" für die YogalehrerInnen-Ausbildung auf, das 1976 von
der "Europäischen Yoga-Union" (EYU) verabschiedet worden war und
das 1996 überarbeitet wurde. Dieses Ausbildungskonzept des BDY hat heute
allgemeine Anerkennung gefunden.
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In den letzten Jahren zeigt sich noch
eine andere Tendenz, die - nicht nur im Bereich des Yoga - wirksam wird:
das allmähliche Zusammenrücken von Yoga-Wissenschaft und Yoga-Praxis. Diese
Entwicklung ist sehr positiv. Die indische Yoga-Geschichte lehrt uns ja,
dass das ganzheitlich wirkende und multidimensional angelegte Yoga-System
nur unter Heranziehung von Wissen und Erfahrung erforscht und umgesetzt
werden kann. In Indien war eine Trennung von Theorie und Praxis - wie im
Westen - auch nie auszumachen, gilt doch der Yoga dort bis heute als die
"Erfahrungswissenschaft" schlechthin. Ausdruck des zeitgemäßen,
ganzheitlichen Ansatzes im Yoga ist das Handbuch für Übende und Lehrende,
das der Berufsverband der Yogalehrenden in Deutschland im Herbst 1991
veröffentlicht hat. Hier haben Yoga-Forscher, die Yoga praktizieren und
teilweise auch weitergeben, und Yoga-Lehrende gemeinsam ein Standardwerk zu
allen wichtigen Aspekten des Themas Yoga - und seines zeitgenössischen
westlichen Umfeldes - verfasst.
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