Die Erdachse und der Nordpol verschiebt sich:
Forscher enthüllen das Geheimnis der taumelnden Erde
Von Michael Odenwald - Burda
Unsere Erde läuft nicht mehr ganz rund. Vor etwa 15 Jahren kam sie ins Taumeln, weil die Erdachse begann, sich zu verlagern. Die Unwucht macht sich in einer Wanderung des geografischen Nordpols bemerkbar, der den nördlichen Schnittpunkt der Achse mit der Erdoberfläche markiert.
Seit 1899 haben Geologen und Seefahrer die Lage dieses Punktes und seine Bewegungen recht exakt gemessen. Fast während des gesamten 20. Jahrhunderts wanderte er in Richtung der kanadischen Hudson Bay.
„Die Abweichung ist dramatisch“
Um 2000 aber änderte sich die Bewegungsrichtung abrupt nach Osten. Seither driftet der Nordpol mit einer Rate von 17 Zentimetern pro Jahr entlang des Greenwich-Meridians auf die britischen Inseln zu – damit wandert er doppelt so schnell wie zuvor.
Dies berichten Geophysiker des Jet Propulsion Laboratory der US-Raumfahrtbehörde Nasa im kalifornischen Pasadena in einer Studie, die im Fachjournal „Science Advances“ erschien. „Diese Abweichung von der Richtung des 20. Jahrhunderts ist sehr dramatisch", sagt Studienhauptautor Surendra Adhikari.
Satelliten messen monatlich Veränderungen
Ihre Daten gewannen die Forscher mit Hilfe der Nasa-Erderkundungsmission „Grace“, deren zwei Satelliten die Erde in rund 300 Kilometern Höhe umkreisen. Ihre hoch empfindlichen Sensoren registrieren die Erdanziehung, dadurch ließen sich sehr genaue Karten des Gravitationsfeldes der Erde erstellen.
Im Monatsrhythmus melden die Satelliten Veränderungen der Verteilung der Massen in unserem Planeten. Dabei lässt sich auch die Zu- und Abnahme von Eis- und Schneedecken sowie von Grundwasserströmen erkennen.
Schmelzende Eisschilde bewirken gewaltige Umlagerungen
Diese Messungen verrieten, warum sich die Erdachse verlagert: Sowohl die Eismassen der Arktis und Antarktis als auch das Grundwasser unter dem indischen Subkontinent und der Region um das Kaspische Meer haben sich drastisch verringert.
Adhikari und seinen Kollegen errechneten, wie groß diese Massenänderung ist und wie sie sich zwischen 2003 und 2015 auf die Erdachse auswirkte. Seit der Jahrhundertwende verliert der grönländische Eisschild durch die globale Erwärmung pro Jahr im Mittel 278 Milliarden Milliarden Tonnen Eis, die Antarktis 92 Milliarden Tonnen. Hinzu kommen Ströme an Wasser, sie sich von schmelzenden Gletschern in Alaska und Patagonien in die Meere ergießen. Dies bewirkt eine gewaltige Umlagerung von Massen.
Die Berechnungen der JPL-Wissenschaftler zeigten indes, dass der Verlust an Grönlandeis allein nicht die gewaltigen Energiemengen liefert, die es braucht, um die Erdachse im beobachteten Ausmaß zu verschieben.
Auch die Antarktis trägt zu wenig dazu bei. Der westantarktische Eisschild verliert an Masse, wogegen die Eisdecke der Ostantarktis zu nimmt. Beide Massenveränderungen ziehen bzw. schieben die Rotationsachse unseres Planeten in die gleiche Richtung, in die sie auch das Grönlandeis im Norden zieht.
Der Schlüssel liegt in Eurasien
Doch selbst der kombinierte Effekt kann die beschleunigte Verlagerung der Achse nicht erklären. Es muss also eine Masse östlich von Grönland geben, die zusätzlich zieht. Der Schlüssel dazu liegt in Eurasien.
„Der größte Teil der Veränderung resultiert aus dem Wasserdefizit in Indien und den Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres, das durch die Wassernutzung für Bewässerung sowie Dürren verursacht wird“, erläutert Adhikari.
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Auf diese Veränderungen reagiert die Erde besonders empfindlich
Die Entdeckung überraschte die Forscher, denn gegenüber den schmelzenden Eisschilden ist diese Massenveränderung klein. Doch sie hat einen starken Effekt, weil die Erdachse auf Veränderungen bei jeweils 45 Grad nördlicher und südlicher Breite besonders empfindlich reagiert. „Dies wird von der physikalischen Theorie rotierender Objekte gut erklärt“, konstatiert Adhikari. „Deshalb sind Veränderungen etwa auf dem indischen Subkontinent so wichtig.“
Zwar ist die Taumelbewegung der Erdachse ein natürlicher Prozess, am dem viele Faktoren mitwirken. So verteilt die Plattentektonik die Massen der Kontinente um, und weil unser Planet keine vollkommene Kugel, sondern ein kartoffelförmiges „Geoid“ ist, kann die Schwerkraft des Mondes seine Rotationsachse ändern.
Globale Erderwärmung verstärkt diese Effekte
Zudem beeinflussen Windsysteme, Meeresströmungen, anhaltende Niederschläge und Prozesse im Erdinneren deren Balance. So hebt sich die Erdkruste in Nordamerika, weil nach der letzten Eiszeit die Gletscher schmolzen. Ohne das Gewicht der Eismassen stellt sich in der Region ein neues Massengleichgewicht ein, wodurch der Pol in Richtung Kanada wanderte. Darüber hinaus können auch Erdbeben die Erdachse verschieben.
Die globale Erwärmung verstärkt jetzt diese Effekte. Dennoch bestehe kein Grund zur Sorge, beruhigen die Studienautoren: Die kleine Verschiebung der Achse wirke sich allenfalls auf astronomische Beobachtungen sowie die Genauigkeit globaler Positionsbestimmungssysteme aus.
Forscher erwarten weiteren starken Massenverlust
Erst wenn sich wirklich große Massen nachhaltig verschöben, könne die Unwucht stärkere Folgen haben. „Wir erwarten einen weiteren starken Massenverlust in den Eisschilden der Westantarktis und Grönlands, deshalb wandert der Pol sicher nicht zurück nach Kanada“, resümiert Studienhauptautor Adhikari.
Andererseits ist offen, ob er sich weiterhin entlang des Greenwich-Meridians bewegt, oder in andere Richtungen mäandert. „Das hängt hauptsächlich von den Gebieten der Eisschmelze ab, und welche Effekte dem Massenverlust entgegenwirken“, ergänzt Florian Seitz, Direktor des Deutschen Geodätischen Forschungsinstitut in Potsdam in einer Email an seine JPL-Kollegen.
„Dies kann beispielsweise die Erhöhung des Meeresspiegels, erhöhte Wasserspeicherung auf den Kontinenten oder allgemein ein Wandel der Klimazonen sein.“ Die jetzt beobachtete Verlagerung der Erdachse zeigt indes, wie stark der Mensch schon auf seinen Planeten einwirken kann.
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