Ursprüngliches Christentum

Wie passt das Konzept von samadhi zu christlichen Lehren? Die meisten Kirchgänger bekommen Sonntag morgens sicherlich keinen Hinweis, dass die Bibel ihnen etwas wie kosmisches Bewusstsein verheißt. Niemand hat jedoch ein exklusives „Urheberrecht" auf die Lehren Christi.

Die Wahrheit ist facettenreich wie ein Diamant. Den Lehren von Moses und Jesus Christus sind im Westen bestimmte Gewichtungen gegeben worden, auch andere sind jedoch durchaus legitim, insbesondere jene, die Wahrheiten reflektieren, welche jahrhundertelang in anderen Teilen der Welt hochgehalten worden sind. Eine Auseinandersetzung mit diesen unbekannten Traditionen könnte sich für den westlichen Menschen als überaus förderlich erweisen, wenn er tiefere Einsicht in seine eigenen religiösen Lehren sucht.

Es wird niemanden überraschen, dass die Bibel für verschiedene Leute Verschiedenes bedeutet. Ist es nicht offensichtlich, dass ihre Autorität nur so weit gehen kann, als sie der Betreffende selbst zu verstehen in der Lage ist? Jesus sagte: „Darum rede ich zu ihnen in Gleichnissen: Denn die sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht, und sie verstehen nicht." (28) Selbst nachdem er sein Gleichnis vom Sämann erklärt hatte, sagte er: „Wer Ohren hat, der höre."(29)

Was nun bestimmt jemandes Fähigkeit zu verstehen? Weit wichtiger als seine angeborene Intelligenz ist seine tatsächliche, seine innere Erfahrung göttlicher Weisheiten. Auf welche andere Weise könnten sie erkannt werden?

Der Hl. Anselmus hat es so ausgedrückt: „Wer nicht erfährt, wird nicht wissen. Denn wie die Erfahrung einer Sache das bloße Hören von ihr bei weitem übersteigt, so ist das Wissen desjenigen, der erfährt, jenseits des Wissens von dem, der hört."

Um zu der Frage des Verhältnisses von Christentum zum Konzept von samadhi zurückzukehren: Betrachten wir zuerst die Heiligen.

„Die Seele, die gereinigt ist, wohnt zur Gänze in Gott", schrieb die Hl. Katharina von Genua; „ihr Sein ist Gott."

Die Hl. Katharina von Sienna berichtet von einer Vision, in der ihr Christus sagte: „Ich bin Das, was ich bin; du bist das, was nicht ist." Mit anderen Worten, der kleine Strudel ihres Ego hatte keine eigene, ihm innewohnende Wirklichkeit.

Die Hl. Veronika Giuliani, die Kapuzinernonne aus dem 17. Jhdt., beschrieb in ihrem Tagebuch ihre Erfahrung mit der mystischen Vereinigung. Sie hätte eine Überzeugung gewonnen, die weit über jedes intellektuelle Konzept und über jede Annahme hinausginge, dass nämlich „außerhalb Gottes überhaupt nicht anderes existiert".

Legen diese Zitate nicht unausweichlich das nahe, was dem indischen Yogi als samadhi bekannt ist?

Lasst uns sehen, was christliche Heilige weiter zu dem Thema der Unendlichkeit als einer Definition göttlicher Bewusstheit gesagt haben.

„Ich, die unendlich ist", schrieb die Hl. Katharina von Sienna, „suche unendliche Werke - das ist eine unendliche Vollkommenheit in der Liebe."

St. Bernhard schrieb: „Genauso, wie ein kleiner Tropfen Wasser, vermischt mit einer Menge Wein, gänzlich seine eigene Identität zu verlieren scheint, während er den Geschmack des Weines und seine Farbe annimmt, so wird es unausweichlich geschehen, dass jegliche menschliche Neigung auf eine unbeschreibliche Art von selbst wegschmilzt und gänzlich in den Willen Gottes übergeleitet wird."

„Steht geschrieben nicht in Eurem Gesetz: ,Ich habe gesagt: Ihr seid Götter'?" (30)

So antwortete Jesus den Juden, als sie ihn der Blasphemie bezichtigten, weil er gesagt hatte: „Ich und mein Vater sind Eins."

„Du bist Das", sagen die indischen Schriften. Christen, die sich keine höhere Bestimmung vorstellen können als ewige Beschränkung in einem kleinen Körper, täten gut daran, das Gleichnis vom Senfkorn zu betrachten, das Jesus mit dem Königreich des Himmels verglich. Das Senfkorn wächst, obwohl es winzig ist, einmal zu einem Baum heran, sagte Jesus, „dass die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen in seinen Zweigen" (31). Ebenso erweitert sich die Seele, die sich mit dem Herrn vereinigt, um die Unendlichkeit des Bewusstseins zu umfassen, das Gott ist.

Christen, die sich selbst als inhärent sündig betrachten und nicht als sündigend aus Verirrung, täten gut daran, sich in das Gleichnis vom verlorenen Sohn zu versenken, dessen wahres Zuhause in Gott war; und (wenn sie nach dem Himmel trachten) in diese Worte Jesu: „Und niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel hernieder gekommen ist, nämlich des Menschen Sohn." (32)
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28) Matthäus 13:13. 29) Matthäus 13:43. 30) Johannes 10:34. 31) Matthäus 13:32. 32) Johannes 3:13.

Aus: "The Path" von Swami Kriyananda, direkter Jünger Paramahansa Yoganandas