Die Bhagavad Gita
„Eine neue Schrift ist geboren!" rief Meister ekstatisch. Sein Kommentar zur Bhagavad Gita war vollendet. In drei Monaten ununterbrochenen Diktats hatte er 1500 Seiten fertiggestellt.
Meister und ich wanderten um das Anwesen seines Retreats. Nach Fertigstellung seines Manuskripts hatte er mich schließlich zu sich beordert, um meine Vorschläge für die vorläufige Redigierung zu hören.
„Eine neue Schrift ist geboren!" wiederholte er. „Millionen werden durch dieses Buch Gott finden. Nicht nur Tausende. Millionen! Ich weiß es. Ich habe es gesehen."
Nachdem ich nun aus meiner Abgeschiedenheit herausgeholt worden war, bestand meine erste Aufgabe darin, das gesamte Manuskript durchzulesen und ein überblicksmäßiges Gefühl dafür zu entwickeln. Ich fand diese Erfahrung nahezu überwältigend. Niemals zuvor hatte ich etwas gelesen, das so tiefgreifend und gleichzeitig so schön und erhebend war. Nicht auszudenken, dass ich erst kürzlich Meisters Weisheit bezweifelte! Ich gab mir innerlich selbst einen Fußtritt dafür, solch ein Tölpel zu sein. Sein Buch war von der tiefsten Weisheit erfüllt, die ich je erlebt hatte. Ungleich den meisten philosophischen Werken war es darüber hinaus frisch und lebendig, jede Seite ein springender Quell an originellen Einsichten. Mit der sicheren Hand eines Meisterlehrers wurden profunde Wahrheiten gelegentlich mit intelligentem Humor aufgelockert, mit anmutigen und instruktiven Geschichten untermalt oder mit kurzen Hinweisen auf eine neue, manchmal atemberaubende Enthüllung gekrönt. All das wurde immer noch klarer gemacht durch, wie Meister es selbst ausdrückte, „Illustration auf Illustration".„Ich verstehe jetzt, warum mich mein Meister niemals andere GitaInterpretationen lesen ließ", meinte er. „Hätte ich das nämlich getan, so hätte mein Geist durch die Meinungen anderer beeinflusst werden können. Dieses Buch aber kam vollständig von Gott. Es ist nicht Philosophie - die bloße Liebe zur Weisheit. Es ist Weisheit. Um sicher zu gehen, dass ich es nicht von einer Ebene der persönlichen Meinung aus schrieb, stellte ich mich auf Byasas (26) Bewusstsein ein, bevor ich zu diktieren begann. Alles, was ich sagte, entsprach dem, was er selbst ausdrücken wollte."
Meine drei Monate der Zurückgezogenheit waren vorüber; es folgten nun zwei Monate konzentrierter Arbeit mit Meister in seinem Heim. Ich verbrachte viele Stunden mit ihm.
Zuerst rätselte ich herum, wieso Meister überhaupt wollte, dass jemand sein Manuskript für ihn redigierte. Es war so offensichtlich inspiriert, und - nun, ich dachte, beinhaltete göttliche Inspiration nicht Perfektion auf jeder Ebene? Nicht notwendigerweise, wie es schien. Inspiration liege hauptsächlich in den Schwingungen und den Ideen, die ausgedrückt werden, erklärte Meister.
Logischer Satzbau, erkannte ich allmählich, gehört ebenso zu unserer physischen Ebene der Existenz wie fachmännisches Installieren. Grammatik ist einfach ein Werkzeug des Denkens und der Kommunikation. Die Tätigkeit des Gehirns ist, verglichen mit der transzendenten Intuition der Seele, langsam und schwerfällig. Viele Male ist es vorgekommen, dass sich eine wichtige wissenschaftliche Entdeckung vollständig im Geist ihres Entdeckers entfaltet hat, diesen aber Jahre an Detailarbeit gekostet hat, um diese intuitive Einsicht klar und überzeugend formuliert der Öffentlichkeit präsentieren zu können.
Wie Meister einmal zu mir sagte: „Während du mir beim Redigieren hilfst, hilfst du dir selbst, dich zu entfalten." Meister hatte keine Schwierigkeiten, unbeschwert und in effizienter Weise an mundane Probleme heranzugehen, wenn er sich darauf einstellte. Eines seiner Bücher redigierte er zum Beispiel selbst: Whispers from Eternity (Flüstern aus der Ewigkeit). Und dieses hielt ich nicht nur für eines seiner hervorragendsten Werke, sondern auch für einen der wunderbarsten Gedichtbände, die je geschrieben worden sind (27). Für die Redaktion seiner Gita-Kommentare jedoch erbat Meister unsere Vorschläge und schien sich damit zufrieden zu geben, seine Arbeit auf das Grundkonzept zu beschränken.
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26) Der altehrwürdige Autor der Bhagavad Gita.
27) Ich beziehe mich auf die englischen Originalausgaben 1929 und 1949.
An Wochenenden, manchmal auch für längere Zeit, kamen weitere Mönche heraus. Meister erzählte einmal einer Gruppe von uns einen amüsanten Vorfall, der sich während der Monate seines Diktats ereignete. Jerry wollte das Dach von Meisters Haus mit einem Zementbelag decken. Trotz Meisters Widerspruch behauptete er steif und fest, ein solches Dach würde ewig halten. „Ich sagte ihm dann, er solle die Arbeit unverzüglich fertigstellen", fuhr Meister fort, „aber Jerry meinte, es werde schon alles in Ordnung kommen. ,Ich weiß, was ich tue."" Meister lachte. „Zuerst legte er Dachpappe auf das Dach. Dann nagelte er einen Maschendraht darüber. Dabei wurde das Dach zu einem totalen Sieb: Hunderte von Nägeln steckten darin. ,Beeile dich", drängte ich. Aber Jerry sah keinen Grund, die Dinge zu überstürzen.
Nun, ein gigantischer Sturm kam! In Windeseile verteilte man Pfannen und Töpfe in allen Räumen. Das Wasser tropfte von überall. Das Haus glich einem Duschbad!
Es gab jedoch zwei Räume, in die kein Regen drang: das Diktierzimmer und mein Schlafzimmer. Das Dach über diesen beiden Räumen war genau das gleiche Sieb wie über dem Rest des Hauses, aber die Göttliche Mutter wollte meine Arbeit nicht unterbrochen haben. Nur ganz am Ende des Gewitters fiel ein Tropfen in einen Kübel im Diktierzimmer und ein zweiter auf meinen nackten Bauch im Schlafzimmer, während ich auf dem Bett lag, um mich zu entspannen. Das war die Art der Göttlichen Mutter, einen kleinen Scherz mit mir zu treiben!"
Jerry, der dabei war, sagte: „Es tut mir leid, ich bin so dickköpfig, Sir." „Schon gut", entgegnete Meister in versöhnlichem Ton. „Ich ziehe Dickköpfe an!"
An einem Wochenende kam Mrs. Harnet Grove, die Leiterin unseres Zentrums in Cardena, Californien, uneingeladen hinaus.
„Das ist der Nachmittag", sagte ihr Meister, „an dem ich für gewöhnlich eine Ausfahrt mit dem Wagen unternehme. Aber ich wusste, dass sie kommen würden. Also blieb ich zu Hause."
An den Abenden ertüchtigte sich Meister durch langsames Wandern um sein Retreat-Gelände. Im allgemeinen bat er mich, ihn zu begleiten. Bei diesen Gelegenheiten war er von seinem Körperbewusstsein derart weit entfernt, dass er sich manchmal zur Stütze auf meinen Arm lehnen musste. Er pflegte dabei innezuhalten und vor und zurück zu schwanken, als ob er gleich fallen würde.
„Ich bin in so vielen Körpern", bemerkte er einmal, während er langsam das Körperbewusstsein zurückholte, „es ist schwierig für mich, mich zu erinnern, welchen Körper ich eigentlich bewegen soll."
Eines Tages saß ich in Meisters Diktierzimmer und wartete, während er an seinem Gita-Manuskript arbeitete. Während er schrieb, seinen Geist zutiefst auf die gegenwärtige Tätigkeit konzentriert, schaute ich zu ihm hinüber. Wie wundervoll war es, dachte ich, sein Jünger zu sein. Als er seine Arbeit beendet hatte, bat er mich, ihm aufzuhelfen. Während des Aufstehens hielt er für einen Augenblick meine Hände und blickte mit Freude in meine Augen.
„Nur eine Anschwellung des Ozeans!" sagte er sanft.
In seinen Gita-Kommentaren hatte er Gott mit dem Ozean verglichen und die individuellen Seelen mit seinen vielen Wellen. „Gott ist die einzige Wirklichkeit, die sich in allen Wesen manifestiert", sagte er. Ich konnte seiner liebevollen Bemerkung entnehmen, dass er von meiner Liebe wollte, sie solle sich ausdehnen, um den Ozean des Geistes zu umfassen, von welchem sein Körper nur ein winziger Ausdruck war.
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Aus: "The Path" von Swami Kriyananda, direkter Jünger Paramahansa Yoganandas