Irdische und geistige Gärten
Irgendwann im August oder September 1949 kam Paramhansa Yogananda zu seinem schönsten und letzten Ashram - Besitz: mehrere Hektar, von der Natur zu einer steilwandigen Schüssel geformt, die einen kleinen See umgibt. Dieser „Lake Shrine (Schreinsee)", wie Meister ihn nannte, liegt erhaben in den Armen einer grossen Kurve eingebettet, die vom Sunset Boulevard dort gebildet wird, wo er die Stadt Pacific Palisades verlässt, um sich schliesslich zum Ozean hinab zuschwingen. Der Besitz ist einer der liebreichsten, die ich während eines Lebens der Weltreisen gesehen habe.
Bald nachdem Meister die Gründe in Besitz genommen hatte, lud er die Mönche dorthin ein, um sie vorzustellen. Wir spazierten auf den Gründen umher und waren ob ihrer Schönheit von Staunen ergriffen. Glückselig prophezeite Meister: „Das wird eine Sehenswürdigkeit für das Werk!" Später ließ er uns Badehosen anziehen, und bald waren wir mit ihm im Wasser.
„Ich sende das göttliche Licht überall durch diesen See", sagte er. „Das ist jetzt heiliges Wasser. Wer immer in Zukunft hierher kommt, wird eine göttliche Segnung empfangen."
Selbst heute noch, mehr als dreißig Jahre nach diesem Ereignis, bedeutet schon das bloße Betreten dieser Gründe ein Fühlen ihrer spirituellen Kraft.
Bald machten wir uns an die Aufgabe, Vorbereitungen für die offizielle Eröffnung zu treffen, die ein Jahr später stattfinden sollte. Bäume, Sträucher und Blumen wurden auf die steilen Berghänge gepflanzt. Statuen führender Figuren der großen Weltreligionen wurden malerisch über das Gelände verteilt, um die Einheit aller Religionen herauszustreichen. („Wo wollt Ihr den Buddha sitzen haben?" fragten wir eines Tages. Meister war gerade in der Nähe. „Der Buddha", antwortete er mit einem stillen Lächeln, „zieht es vor, stehen zubleiben.")
Während der frühen Monate der Vorbereitung erwiesen sich Schwärme von Mücken als extreme Belästigungen. Die Faszination, die unsere Augen, Ohren und Nasenlöcher auf diese Tierchen ausübten, war alles andere als schmeichelnd. „Meister", rief ich eines Tages erbittert aus, „welche Ironie! Warum muss dieser wunderschöne Flecken durch solche Insekten beeinträchtigt werden?"
Gelassen antwortete Meister: „Das ist der Weg des Herrn, uns immer in Seine Richtung in Bewegung zu halten." Glücklicherweise fand der Herr andere Wege, um diesen Zweck zu erreichen. Die Mücken erwiesen sich nur als zeitweilige Pest.
Eines Tages hoben wir eine empfindliche, aber ziemlich schwere tropische Pflanze an ihren Standort auf dem Abhang. Unsere Behandlung war offensichtlich etwas zu roh, denn Meister schrie auf: „Seid vorsichtig! Könnt ihr nicht fühlen? Sie lebt!"
Seine Sensitivität allen lebenden Dingen gegenüber inspirierte umgekehrt Sensitivität in diesen. Selbst Pflanzen schienen zu reagieren. Seine Gärten blühten und gedeihten. Tropische Mangos und Bananen wuchsen auf Mt. Washington, obzwar das Klima dort für deren Überleben nicht gerade günstig ist. Shradda Mata erzählte, sie habe eines Tages einen - wie sie es nannte - „Rosen-devotee" beobachtet, der sich in seiner Vase immer so drehte, dass er Meister zugewandt war, wenn dieser sich in seinem Zimmer bewegte. „Pflanzen", erklärte Meister, „haben einen bestimmen Grad an Bewusstsein. Sie reagieren vor allem auf Liebe, wie jedes empfindsame Wesen." In seinem Training verglich er manchmal auch uns mit Pflanzen. Über einen Mönch, der seinem Rat widerstrebt hatte, bemerkte er einmal: „Welche Aufgabe übernimmt einer, der versucht, Leute zu bessern! Er muss in ihre Gemüter vordringen, um zu sehen, was es ist, das sie denken. Die Rose in der Vase sieht wunderschön aus. Man vergisst all die Pflege, die man auf ihr Wachstum verwendet hat. Aber wenn es solcher Fürsorge bedarf, um eine Rose heranzuziehen, wieviel mehr davon braucht es, um ein vollkommenes menschliches Wesen zu entwickeln!"
Gleich einem göttlichen Gärtner arbeitete Meister unaufhörlich an unserer geistigen Entwicklung. Es brauchte Geduld, Liebe, Mut und beträchtlich mehr Vertrauen in uns, als dies die meisten von uns in sich selbst hatten. Denn dort, wo wir nur unsere Egos sahen, die sich darum mühten, ihre Unvollkommenheiten abzustreifen, sah er unsere Seelen, die darum kämpften, ihr göttliches Geburtsrecht in Ihm wiederzuerlangen. Manche seiner Jünger rechtfertigten seinen Glauben an sie besser als andere, aber er bedachte sie alle mit der gleichen Vision ihrer schließlich Vollkommenheit.
In Twenty-Nine-Palms sagte Meister im Oktober 1949 zu mir: „Mit denjenigen, die mit mir sind" - er musste gemeint haben" in Übereinstimmung mit mir - „habe ich niemals Schwierigkeiten. Ein Blick allein genügt. Es ist viel besser, wenn ich auf diese Weise lehren kann." Er fügte hinzu: „Sie sind Heilige von früher, zumindest die meisten von ihnen." Ein anderes Mal sagte er zu mir: „Viele der Jünger werden Freiheit finden, noch in diesem Leben."
Dr. Lewis, der erste kriya-Yogi in Amerika, war derjenige unter den Jüngern, der die meisten Anekdoten über Meister anzubieten hatte. Wir pflegten stundenlang bei ihm zu sitzen, während er uns mit Geschichten versorgte, einige von ihnen amüsant, einige ernst, aber alle instruktiv. Sie halfen uns erkennen, wie sich das Verhältnis zwischen guru und Jünger allmählich in eines der Freundschaft in Gott entwickelt.
Gegen Ende Oktober jenes Jahres begleiteten Dr. Lewis und mehrere andere den Meister nach San Francisco, um den indischen Premierminister Jawaharlal Nehru zu treffen. Dr. Lewis kehrte mit Geschichten über ihre Reise nach Mt. Washington zurück, und ging dann dazu über, andere Reminiszenzen aus seinen Jahren mit Meister mit uns zu teilen.
Meister und seine kleine Gruppe hatten ein kleines chinesisches Restaurant in San Francisco besucht. Das „vegetarische" Mahl, das sie bestellt hatten, war mit kleinen Hühnerfleisch-Stückchen serviert worden. Eine Dame aus der Gruppe, prominentes Mitglied einer anderen Religionsgemeinschaft, war wütend in die Küche gestürzt und hatte das Personal für diese „Unverschämtheit" zurechtgewiesen.
„Meister sah ein unkontrolliertes Temperament als weit schlimmere Sünde an als den Genuss von Hühnerfleisch", erzählte uns der Doktor. „,Es ist
nicht wichtig genug, um aus einer Mücke einen Elefanten zu machen’, sagte er zu den restlichen Anwesenden. Er schob die Fleischbissen auf die Seite und aß gelassen den Rest seines Mahls."
Für diese Nacht hatten Meister und das Ehepaar Lewis nebeneinanderliegende Hotelzimmer. „Meister ließ die Verbindungstüre zwischen uns offen", sagte Lewis. „Ich wusste, er wollte uns diese Nacht nicht schlafen sehen. Wie ihr wisst, schläft er selbst nie. Wenigstens nicht auf die Art, wie du und ich es tun. Und er will auch uns aus der übermäßigen Abhängigkeit vom Unterbewusstsein - Pseudosamadhi, wie er es nannte - herausholen. Ich denke, er sah hier die Gelegenheit für uns, einige weitere Stunden in geistiger Freundschaft mit ihm und in Inspiration durch ihn zu verbringen. Diese Gelegenheiten sind rar geworden, seitdem das Werk die Welt zu umspannen begonnen hat.
Das Problem war, dass sowohl meine Frau als auch ich müde waren - sie besonders. Wir waren den ganzen Tag auf der Reise gewesen. ,Wir gehen schlafen’, kündigte sie in einem endgültigen Ton an. Meister aber hatte andere Vorstellungen.
Meine Frau und ich gingen zu Bett. Meister schien sich dem zu unterwerfen und legte sich auf sein Bett. Ich war gerade dabei, mich zu entspannen, meine Frau im Begriffe, friedlich in den Schlaf hinüber zugleiten, als Meister plötzlich wie eine unendliche Offenbarung hervorstieß:
,Sub gum !'
Sonst nichts. Sub gum war eines jener chinesischen Gerichte, das wir unter Tags gegessen hatten. Ich lächelte in mich hinein. Aber Mrs. Lewis murmelte grimmig: ,Er wird mich nicht dazu bringen, aufzustehen!’ Einige Minuten vergingen. Wieder begannen wir hinweg zusegeln. Plötzlich erklang es mit verwundertem Ton:
,Sub gum Taube!’ Meister betonte die Worte sorgfältig, gleich einem Kind, das mit ungewohnten Lauten spielt.
Verzweifelt flüsterte meine Frau: ,Wir schlafen!’ Sie drehte sich hilfesuchend zur Wand.
Wieder vergingen Minuten. Dann ganz langsam:
,Super sub gum Taube!’ Die Worte waren diesmal ernst gesprochen, gleich einem Kind, das gerade eine wichtige Entdeckung macht.
In diesem Stadium schüttelte es mich bereits vor unterdrücktem Lachen. Aber obwohl Schlaf für uns beide ein eher unmöglicher Traum zu werden begann, klammerte sich meine Frau weiterhin glühend an ihren Entschluss. Noch ein paar stille Minuten. Und dann die große Entdeckung:
,Super SUBMARINE (Unterseeboot) sub gum Taube!’
Weiterer Widerstand war zwecklos. Unter schallender Heiterkeit erhoben wir uns aus dem Bett. Für den Rest der Nacht war der Schlaf vergessen. Wir plauderten und lachten mit Meister. Allmählich jedoch drängte die Konversation nach ernsteren Tönen. Schließlich sprachen wir nur mehr von Gott, um dann zu meditieren. Mit seinem Segen fühlten wir keinen weiteren Bedarf nach Schlaf in dieser Nacht."
Da Dr. Lewis uns für seine humorvolle Laune an jenem Abend so aufgeschlossen fand, vermittelte er uns noch eine Anekdote: „Meister und ich standen vor Jahren einmal auf dem Gehsteig, als ein Mann, der mit dem Fahrrad vorbeifuhr, Meisters lange Haare bemerkte. Abschätzig streckte er seine Zunge heraus. Kaum einen Meter weiter gab es eine große Schlammpfütze. Genau in der Mitte dieser Pfütze machte sich das Vorderrad seines Gefährtes selbständig. Es folgte eine ausgestreckte Bruchlandung inmitten derselben!"
Doktors weitere Erinnerungen wurden tiefergehend und führten ihn zu seinen frühen Jahren mit Meister zurück.
„Da gab es einen Mann, der zum Tode verurteilt worden war, obwohl ihn viele für unschuldig hielten. Am Tage vor der festgelegten Hinrichtung war ich bei Meister und erwähnte diesen Fall. Meister versank tief in Gedanken. Stillschweigend zog er sich in eine Ecke des Raumes zurück und saß bewegungslos dort. Nach einiger Zeit kehrte er mit einem Lächeln zu unserem Kreis zurück und nahm die Konversation wieder auf. Niemals erwähnte er den Verurteilten. Am folgenden Morgen jedoch stand in den Zeitungen die Nachricht zu lesen: Zur elften Stunde hatte der Gouverneur eine Begnadigung unterzeichnet.
Ihr müsst euch vorstellen, dass wir in jenen Tagen mit Meisters Methoden nicht so vertraut waren, wie ihr es heute seid. Wir wussten nicht, welch wundervolle Dinge er vollbringen konnte - schon deswegen nicht, weil wir über die Meister im allgemeinen nicht Bescheid wussten. Mittlerweile hatten die Leute jahrelang Gelegenheit, ihn besser kennen zulernen. Es war für uns damals schwieriger, jenen Glauben an ihn zu besitzen, den ihr heute habt. Was etwa diese Episode mit dem Verurteilten betrifft: Meister hatte uns niemals gesagt, dass er etwas getan hatte, um ihm zu helfen. Er spricht selten über die wundervollen Dinge, die er tut. Man fängt bloß an, sich zu wundern, wenn sich dauernd etwas um ihn herum ereignet.
Er will uns nicht durch Wunder verblüffen. Liebe ist die Gewalt, durch die er uns zu Gott zu ziehen sucht."
Ungefähr zu dieser Zeit meines Lebens begann Meister" mich um die Aufzeichnung seiner Worte zu bitten; er gab erstmals zu verstehen, es wäre sein Wunsch, dass ich eines Tages über ihn schreibe. Stundenlang unterhielten wir uns über sein Leben und seine Erfahrungen beim Aufbau seines Werkes, seine Hoffnungen und seine Pläne für die Zukunft. Er erzählte mir zahllose Geschichten, einige zur Illustration von Feststellungen, die er machte, andere, so nehme ich an, weil sie einfach interessant waren oder in allgemeiner Hinsicht halfen, mein Verständnis für den geistigen Pfad abzurunden. Viele seiner Andeutungen erreichten mich nicht durch das Medium des Wortes, sondern durch eine Art Osmose, einen subtilen Eindruck, der sich aus einem Gesichtsausdruck, dem Ton seiner Stimme oder einer noch feingradigeren Übertragung des Bewusstseins mitteilte.
Eines Tages fragte ich ihn: „Welches sind die wichtigsten Eigenschafen auf dem geistigen Weg?"
„Tiefe Ernsthaftigkeit", entgegnete Meister, „und Hingabe. Nicht die Anzahl der Jahre zählt, die einer auf dem Pfad verbringt, sondern vielmehr, wie entschlossen er versucht, Gott zu finden. Jesus sagte: ,Die ersten werden die letzten sein, und die letzten die ersten.’
Ich traf einmal eine Dame im Staate Washington. Sie war achtzig Jahre alt und zeit ihres Lebens Atheistin gewesen. Durch Gottes Gnade wurde sie bei unserem Zusammentreffen zu diesem Pfad bekehrt. Von da ab suchte sie Gott mit aller Kraft. Wenn sie nicht gerade meditierte, verbrachte sie die meiste Zeit des Tages damit, eine Aufnahme meines Gedichts ,Gott! Gott! Gott!’ zu spielen. Sie lebte nur mehr einige Jahre, aber in dieser kurzen Zeit erlangte sie die Befreiung."
Am Weihnachtstag dieses Jahres genossen wir unser traditionelles Bankett. Vorher war die Sitzordnung festgelegt und mittels Tischkarten markiert worden; die Feier war als beschränkte Familienzusammenkunft geplant gewesen. Im letzten Moment jedoch war eine Anzahl ungeladener Gäste eingetroffen. Höflich wurde ihnen Platz gemacht; einige der Monastiker stellten ihre eigenen Sitze zur Verfügung.
Einige von uns diskutierten nachher im Büro mit Meister die Umstände, die durch das plötzliche Hereinbrechen dieser Leute entstanden waren. Ein Mönch gab seinem Missfallen über eine solche Taktlosigkeit Ausdruck. Ich hatte aber das Glück gehabt, einen anderen Aspekt dieser Episode zu beobachten.
„Sir", sagte ich, „die Jünger konkurrierten untereinander um das Privileg, ihre Plätze aufzugeben."
„Ah!" lächelte Meister segensvoll. „Das sind die Dinge, die mir gefallen!"
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Aus: "The Path" von Donald Walters (Swami Kriyananda), Jünger Yoganandas