Erste Tage eines Neophyten
Die tägliche Routine auf Mt. Washington war einigermaßen individuell. Wie in den meisten indischen Ashrams gab man uns Freiheit für private spirituelle Praxis. Wir trafen uns regelmäßig zur Arbeit und zu den Mahlzeiten, beschäftigten uns bei gelegentlichem Abendunterricht mit den gedruckten SRF - Lektionen und ließen Gruppenmeditationen folgen.
Bald freute ich mich auf meine Meditationszeiten ebenso begierig, wie es der weltliche Mensch auf das abendliche Ausgehen tut. Niemals hatte ich zu träumen gewagt, dass es innerhalb meines Selbst einen derartigen Reichtum des Sicht-Freuens geben könnte!
Sonntags besuchten wir die Morgen- und Abendgottesdienste in unserer Kirche in Hollywood. Ich fand sie in ihrer Einfachheit bezaubernd. An beiden Seiten der Altarfront gab es Nischen, in denen Figuren von verschiedenen Führern der großen Weltreligionen standen. Paramhansaji nannte sie eine "Kirche aller Religionen". Die Sitze für etwa 115 Leute waren mit Blickrichtung auf eine kleine Bühne gestellt, auf der die Gottesdienste abgehalten wurden. Entlang der Rückwand der Bühne befand sich ein Altar mit fünf Nischen, jede mit einem Bild eines Gurus unserer Linie: Babaji, Lahiri Mahasaya, Swami Sri Yukteswar, Paramhansa Yogananda und Jesus Christus.
Bernard, dem der Dienst am ersten Sonntag nach meiner Ankunft oblag, führte mich zuvor ein wenig herum. "Warum", fragte ich ihn, "ist das Bild von Jesus Christus auf unserem Altar? Er ist gewiss nicht in der Linie unserer Gurus."
Bernard lächelte. "Meister hat uns gesagt, dass es Jesus selbst war, der Babaji erschienen ist, und ihn bat, diese Lehren der Selbstverwirklichung in den Westen zu senden. Meine Anhänger, stellte Jesus fest, haben die Kunst göttlicher, innerer Vereinigung vergessen. Äußerlich tun sie gute Werke, aber sie haben die wichtigste meiner Lehre aus den Augen verloren, nämlich jene, ,nach dem Königreich Gottes am ersten zu trachten.' (14)
Das Werk, das er durch Meister in den Westen gesandt hat, besteht darin, den Leuten zu helfen, innerlich mit Gott in Verbindung zu treten."
"Sag mir", meinte ich mit einem gewissen Zögern vor diesem philosophischen Seitensprung, "warum haben wir überhaupt Bilder auf unserem Altar? Wenn der Zustand des Bewusstseins, den wir zu erreichen suchen, im Inneren liegt, hindert es dann nicht unsere Entwicklung, wenn unsere Aufmerksamkeit nach außen gelenkt wird, zu Individuen?"
"Nein", antwortete Bernard. "Schau, unsere Meister haben diesen Bewusstseinszustand. Für uns ist es schon schwierig, uns einen solchen Zustand überhaupt vorzustellen. Aber durch Einstimmung auf sie beginnen wir zu fühlen, was es ist, das sie haben, und dieses gleiche Bewusstsein in uns zu entwickeln. Das ist es, was in der Bibel mit den Worten gemeint ist: ,Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er die Macht, Gottes Kinder zu werden.' (15) Man könnte sagen, Einstimmung ist die Essenz der Jüngerschaft."
Am Tage unseres ersten Zusammentreffens, dem 12. September, kehrte Meister nach Encinitas zurück. Ich sah in erst zwei Wochen später wieder, als eine Predigt in der Hollywood Kirche angesetzt war.
Die Kirche war an diesem Tag in göttlichen Frieden getaucht. Als wir eintraten, erklang Orgelmusik.
Endlich teilte sich der Vorhang, und da stand Meister, in seinen Augen ein tiefer, durchdringender Ausdruck, der jedem einzelnen der Anwesenden einen besonderen Segen zu gewähren schien.
Er gab uns eine Einführung in devotionales Singen und Meditation, dann interpretierte er kurz einige ausgewählte Passagen der Bibel und der Bhagavad Gita.
______________
14) Matthäus 6:33.
15) Johannes 1:12.
Sein Diskurs war generell eine Mischung von geistreichem Witz, devotionaler Inspiration und Weisheit. Yogananda zeigte seine Weisheit ohne die geringste Affektiertheit, wie ein bequemes altes Jackett, das man seit Jahren trägt.
"Hinter jedem Rosenbusch des Vergnügens", warnte er uns, "versteckt sich eine Klapperschlange des Leids." Er fuhr fort, uns zu drängen, unser "Vergnügen" in Gott zu suchen und die windigen Versprechungen dieser Welt zu ignorieren.
"Es gibt zwei Arten von armen Leuten", bemerkte er. "Jene, die Lumpenkleider anhaben, und jene, die, selbst wenn sie in Limousinen fahren, geistige Lumpen der Selbstsüchtigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber Gott tragen. Es ist besser, physisch arm zu sein und Gott im Herzen zu haben, als ohne Ihn materiell reich zu sein."
"Bezeichne dich niemals als Sünder", legte er uns weiter dar. "Du bist ein Kind Gottes. Gold bleibt Gold, selbst wenn es jahrhundertlang mit Schlamm bedeckt ist. Ebenso bleibt das reine Gold der Seele, selbst wenn es durch Äonen mit dem Schlamm der Illusion (kosmische Täuschung; Anm.d.Übs.) bedeckt gewesen ist, für immer reines Gold. Dich selbst einen Sünder zu nennen heißt, dich mit deinen Sünden zu identifizieren, statt zu versuchen, sie zu überwinden. Sich selbst als Sünder einzustufen ist die größte Sünde vor Gott!"
Nach der Predigt machte Bernard einige Ankündigungen. Abschließend empfahl er Neulingen, die Autobiographie eines Yogi zu lesen. An dieser Stelle unterbrach ihn Meister und sagte: "Viele kommen von weit her, nachdem sie dieses Buch gelesen haben. Einer las es kürzlich in New York, und — Walter, bitte, steh' auf!"
Ich blickte um mich, um zu sehen, wer dieser "Walter" sein könnte, der, ebenso wie ich, dieses Buch kürzlich in New York gelesen hatte. Niemand stand. Als ich mich zu Meister zurückdrehte, sah ich ihn mir zulächeln! Walter?! Ich stand auf.
"Walter las das Buch in New York", setzte Meister in herzlichem Ton fort, "und ließ alles hinter sich, um hierher zu kommen. Nun ist er einer von uns geworden. " Ordens- wie Laienmitglieder lächelten mir segensvoll zu. "Walter" war der Name, mit dem mich Meister seither immer rief. Niemand sonst verwendete ihn, bis ich nach Meisters frühem Hinscheiden nach jeder nur möglichen Erinnerung an jene kostbaren Jahre mit ihm lechzte. Ich bat damals meine Brüder und Schwestern des geistigen Pfades, mich ebenfalls "Walter" zu nennen.
Meister verbrachte die nächsten paar Tage auf Mt. Washington. Kurz vor seiner Rückkehr hatte mich Norman dazu überredet, mit ihm eine "Traubenkur" zu machen, eine Diät, die aus nichts anderem als Trauben und Traubensaft bestand. Einige Wochen dieser Kur, versicherte mir Norman, würden meinen Körper reinigen und mir zu einem rapiden Fortschritt im spirituellen Leben verhelfen. An diesem Montagmorgen sah uns der Meister.
"Hingabe ist der größte Reiniger", bemerkte er lächelnd.
"Ist es dann Euer Wunsch, Sir, dass wir diese Fastenkur abbrechen?"
"Nun, ich möchte nicht, dass ihr euren Willen brecht, jetzt, da ihr ihn auf diese Weise festgelegt habt. Aber eure Zeit wäre besser genützt, wenn ihr daran arbeitetet, Devotion zu entwickeln. Ein reines Herz ist der Weg zu Gott, nicht ein reiner Magen!"
Meister wies nur diejenigen zurecht, die seine Disziplin akzeptierten. Sonst war er ein sehr behutsames Gemüt. Ich erinnere mich daran, wie er neue Jünger, denen er sanfte Zurechtweisung angeboten hatte, manchmal höflich fragte: "Es macht dir nichts aus, dass ich das sage, nicht wahr?"
Einer jener Züge, die mich am meisten beeindruckten, als ich ihn näher kennen lernte, war die Art seines universellen Respekts. Es war ein Respekt, der aus der tiefsten Sorge um das Wohlergehen anderer geboren war. Ich bin überzeugt, der gänzlich Fremde war ihm ebenso lieb wie seine eigenen Jünger.
Debi Mukherjee, ein junger Mönch aus Indien, erzählte mir ein Erlebnis, das für die Universalität von Meisters Liebe beispielhaft war. Meister hatte ihn eines Nachmittags zu einer Ausfahrt eingeladen. Gegen Sonnenuntergang waren sie auf dem Heimweg.
"Halte den Wagen an!" rief Meister plötzlich. Sie parkten am Gehsteigrand. Er stieg aus und ging einige Meter zurück zu einem kleinen, ziemlich dürftig aussehenden Gemischtwarengeschäft. Dort wählte er zu Debis Erstaunen eine Reihe von Gegenständen aus, von denen keiner von Nutzen war. "Was auf der Welt will er mit diesem ganzen Plunder?" wunderte sich Debi. Am Kassentisch zählte die betagte Eigentümerin die Preise zusammen. Als Meister zahlte, brach sie in Tränen aus.
"Gerade diese Summe benötigte ich heute bitter!" wimmerte sie. "Es ist beinahe Ladenschluss, und ich hatte die Hoffnung, sie einzunehmen, fast aufgegeben. Seien Sie gesegnet, mein Herr. Gott selbst muss sie mir in meiner Stunde der Not geschickt haben!"
Nur Meisters stilles Lächeln verriet seine Kenntnis ihres Problems. Er bot kein Wort der Erklärung an. Wie Debi vermutet hatte, dienten die Einkäufe keinerlei praktischem Zweck.
Zu Anfang fand ich es etwas beunruhigend, mit einem Meister zu leben, der sich, wie ich bald herausfand, meiner intimsten Gedanken und Gefühle bewusst war. Aber mit der Zeit wurde ich für seine Einsicht auch zunehmend dankbar. Mir wurde klar, dass es hier endlich ein menschliches Wesen gab, von dem ich niemals zu fürchten hatte, es werde mich missverstehen. Meister war mein Freund, immer still und fest auf meiner Seite, nur darauf bedacht, mir zu höchstem Verstehen zu verhelfen, selbst wenn ich irrte.
Gegen Ende des Septembers ließ er mich nach Encinitas kommen. Dort meditierte er eines Abends mit einer kleinen Gruppe von uns. In seiner Gegenwart überfiel mich der Gedanke: "Kein Wunder, dass die indischen Schriften den erhebenden Einfluss eines wahren Gurus über alles preisen!" Niemals hätte ich durch meine eigenen bloßen Bemühungen allein so blitzartig und so tief in die Meditation tauchen können.
Bald danach lud mich Meister in ein "retreat" (Rückzugsort) ein, das er in Twenty-Nine-Palms hatte.
____________________________
Aus: "The Path" von Swami Kriyananda, direkter Jünger Paramahansa Yoganandas