Der Kreislauf der Wiedergeburt
"Himmel, Hölle, Fegefeuer sind real!"
Wiedergeburt ist hier nicht als Wiederverkörperung in einen physischen Körper (feste Materie!) zu verstehen, sondern als Wechsel von einem Daseinszustand in einen anderen, d.h. stirbt ein Tier oder Mensch so wechselt er in eine feinstoffliche Ebene (Astralebene, Anderswelt, Jenseits), also eine Wiedergeburt im Himmel, Hölle, Fegefeuer, etc.!!
In fast jedem tibetischen Tempel befindet sich eine anschauliche Darstellung der sechs Daseinsbereiche der Wandelwelt (= Samsara).
Und entsprechend der Natur dieser (astralen) Wandelwelt, in der sich der Kreislauf der Wiedergeburten vollzieht, wird sie dargestellt als ein Kreis, dessen sechs Segmente die sechs Haupttypen weltlichen, d.h. unerleuchteten Daseins darstellen. Diese Daseinsformen sind bedingt durch die Illusion getrennter Selbstheit, den "Ich"-Wahn, (asmimana) der alles, was zur Befriedigung und Aufrechterhaltung seiner "Ichheit" dient, begehrt und alles das, was sich ihm oder seinem Begehren entgegensetzt, verabscheut, als hassenswert, "häßlich", betrachtet.
Diese drei Grundmotive oder Wurzelursachen (hetu) unerleuchteten Daseins bilden die Nabe des Rades der Wiedergeburten. Sie werden daher im Zentrum des Kreises dargestellt und zwar in Form dreier Tiere, in denen Gier, Hass und Wahn (Unwissenheit) veranschaulicht werden:
Ein roter Hahn, als Sinnbild leidenschaftlichen Verlangens und Verhaftetseins (raga, Tib.: ,hdodchags); eine grüne Schlange als Verkörperung des lebenvergiftenden Hasses, der Feindschaft und Aversion (dvesa, Tib.: ze-sdan); und ein schwarzer Eber, der den dunklen, wahnbetörten Daseinsdrang, den blinden Wahn der Ichsucht, verkörpert (moha, Tib.: gti-mug).
A. Verblendung (moha) - Eber
B. Begierde (raga) - Hahn
C. Hass (dvesa) - Schlange
Die drei Tiere sind ineinander verbissen und solcherart angeordnet, daß sie wiederum einen Kreis bilden; denn Gier, Hass und Wahn bedingen sich gegenseitig und sind unlöslich miteinander verbunden. Sie sind nichts anderes als die extremen, willensbedingten Ausdrucksformen jenes Nichtwissens (avidya, Tib.: ma-rig) um die wahre Natur der Dinge, demzufolge die Wesen Vergängliches als unvergänglich, Unwirkliches als wirklich und begehrenswert betrachten. Im geistig unentwickelten triebbeherrschten Wesen wird dieser Mangel an Erkenntnis zur Verblendung (moha), oder, wie der Tibeter sagt, zur geistigen Verdunkelung, Umnachtung (gti-mug), die es tiefer und tiefer in den Kreislauf des Samsara verstrickt, im Jagen nach vergänglichem Glück, Flucht vor Leidvollem, Furcht vor dem Verlust des Ergriffenen, Kampf um den Besitz des Wünschenswerten oder die Erhaltung des Erworbenen. Der Samsara ist die Welt des ewigen Zwiespaltes, unversöhnlicher Gegensätze, einer aus dem Gleichgewicht geratenen Dualität, in der die Wesen von einem Extrem ins andere fallen.
Zuständen himmlischer Freuden stehen Zustände höllischer Qualen gegenüber, dem Bereiche titanischer Macht und Kampfeslust, der Bereich tierischer Angst und Verfolgungsnot, dem Bereich menschlichen Tatendranges und Schaffensstolzes, der Bereich daseinshungriger Pretas (Tib.: yi-dvags), in denen die unbefriedigten Leidenschaften und unerfüllten Begierden weltverhafteter Wesen ein geisterhaftes, gespenstisches Dasein führen.
Tibetisches Lebensrad
(auch: Rad des Werdens; Sanskrit: Bhava-cakra)
Yama, der grimmige, scharfzähnige, mit einem Tigerschurz bekleidete Dämon des Todes und des Unheilsamen hält das Lebensrad in seinen Krallen. Yama (=Mara) figuriert auch als "Versucher" (z.B. in den Darstellungen von Buddhas Leben) und wird in dieser Funktion von seinen drei Töchtern rati - die Lust, arati - die Unzufriedenheit und tanha - die Gier oft unterstützt. In dieser Rolle wird Mara mit dem christlichen Teufel verglichen.
1. Vorstehende Reproduktion eines tibetischen "Lebensrades" (Tib.: srid-pahi hkhor-lo, "der Zyklus weltlicher Daseinszustände" - Samsara) zeigt im obersten Sektor den Bereich der Götter (deva, Tib.: Iha), deren sorgloses, ästhetischen Freuden hingegebenes Leben durch Musik und Tanz angedeutet wird. Durch diese einseitige Hingabe an ästhetischen Genuß vergessen sie die wahre Natur des Lebens, die Begrenztheit ihres Daseins, die Leiden anderer Wesen, sowie ihre eigene Vergänglichkeit. Sie wissen nicht, daß sie nur in einem Zustand zeitweiser Harmonie leben, der ein Ende nimmt, sobald die Ursachen (die moralischen Verdienste, nach buddhistischer Anschauung), die sie zu diesem Zustand führten, erschöpft sind. Sie leben sozusagen vom Kapital vergangener guter Taten, ohne Neues hinzuzufügen. Sie sind mit Schönheit, Langlebigkeit und Schmerzfreiheit begabt, aber eben diese Schmerzfreiheit, dieser Mangel an Widerständen, beraubt die Harmonie dieses Daseins aller schöpferischen Impulse, geistiger Aktivität und des Strebens nach tieferer Erkenntnis und führt schließlich zu einem Absinken in niedere Daseinszustände. Wiedergeburt in himmlischen Welten gilt dem Buddhisten daher nicht als erstrebenswert. Es ist nur ein Aufschub aber keine Lösung des Daseinsproblems. Es führe zur Verstärkung der Ich-Illusion und zu tieferer Verstrickung in die Wandelwelt.
2. So sehen wir im untersten Sektor des Daseinsrades die Kehrseite jener himmlischen Freuden: den Bereich höllischer Qualen (niraya; Tib.: dmyal-ba) - "Hölle". Diese Qualen, die in Form drastischer Torturen dargestellt werden, sind nicht "Strafen", die von einem allmächtigen Gott und Schöpfer über die Wesen verhängt werden, sondern die unvermeidlichen Rückwirkungen ihrer eigenen Taten. Der Totenrichter verdammt nicht, sondern hält nur den Spiegel empor, den Spiegel des Gewissens, in dem jedes Wesen sich selbst das Urteil spricht. Dies Urteil, das aus dem Munde des Totenrichters zu kommen scheint, ist jene innere Stimme, die in der Keimsilbe "HRIH", die im Zentrum des Spiegels sichtbar ist, zum Ausdruck kommt. Darum heißt es, daß Yama, der König des Gesetzes (Skt.: Dharma-raja; Tib.: gsin-rje-chos-rgyal), eine Emanation Amitabhas sei, in Form von Avalokitesvara, der in seiner Barmherzigkeit in die tiefsten Höllen hinabsteigt und kraft des Spiegels der Erkenntnis (durch den die Stimme des Gewissens erweckt wird) die Qualen der Wesen - Dämonen - in ein reinigendes Feuer verwandelt, aus dem sie geläutert zu besseren Daseinsformen aufsteigen. Um dies zu veranschaulichen ist Avalokitesvara in seiner Buddhagestalt nochmals neben der schreckenerregenden Form des Totengottes und Richters, Yama, dargestellt. Aus seiner Hand aber lodert die läuternde Flamme.
Kommentar zum Thema "Hölle":
Katholiken glauben an eine "ewige Verdammnis" in der Hölle, so wurde es gelehrt und manche "Privat-Offenbarungen" schildern das ebenso. Ich glaube (siehe "Anita Wolf"), daß die Hölle (Hades) der Ort der Verbannung ist. Die Feuer müssen brennen, bis die Seele ganz flüssig zur Neuformung geworden ist.
Es gibt aber auch den Ort der Läuterung (Fegefeuer oder Skalpa)! Hier muss die Seele büssen für die Sünden, es erwartet sie Schmerz und Leid. Wer davon betroffen wird ist arm. Die Feuer müssen brennen, bis die Seele ganz gereinigt ist, um den Himmel, das Elysium betreten zu können. =>> Mein Sterbeerlebnis: Himmel - Hölle - Fegefeuer gibt es wirklich!
In ähnlicher Weise erscheint Avalokitesvara in allen anderen Daseinsbereichen, jeweils das Symbol seiner besonderen Sendung, das der Natur des betreffenden Daseinsbereiches entspricht, in Händen tragend. Im Bereiche der Devas, der Götter ("Himmel") erscheint er mit der Laute, um durch die Klänge des Dharma die Götter aus ihrer Selbstzufriedenheit und aus den Illusionen vergänglicher Freuden zu höherer Wirklichkeit und zu einer tieferen, zeitlosen Harmonie zu erwecken.
3. Im Bereiche der Titanen, der "Gegengötter" oder Asuras (Tib.: Iha-ma-yin), zur Rechten der Götterwelt aber erscheint er mit dem flammenden Schwert, denn die Wesen dieses Bereiches verstehen nur die Sprache des Kampfes. Statt um die Früchte des Wunschbaumes (Kalpataru), der zwischen dem Bereich der Götter und dem der Titanen steht, zu kämpfen, lehrt der Bodhisattva den edleren Kampf um die Früchte der Erkenntnis und Wunschbefreiung. Das flammende Schwert ist das Symbol der die Dunkelheit des Nichtwissens und die Knoten der Verstrickung durchschneidenden, aktiven "Unterscheidenden Erkenntnis".
4. Als Kehrseite der Machttrunkenheit der Titanen, steht ihnen im linken unteren Sektor, der Bereich der Furcht gegenüber, des Verfolgtseins und Ausgeliefertseins an ein blindes Schicksal naturgegebener Notwendigkeiten und unkontrollierbarer Instinkte der Bereich der Tiere (volle materielle Verkörperung!). Hier erscheint Avalokitesvara mit einem Buche in der Hand. Denn den Tieren gebricht es an der Fähigkeit artikulierter Sprache und reflexiven Denkens, das sie aus der triebgebundenen Umnachtung ihres Bewußtseins, der Trägheit und Dumpfheit eines noch unentwickelten Geistes, befreien könnte.
5. Zur Linken der Götterwelt sehen wir die Welt der Menschen (volle materielle Verkörperung!) den Bereich zielbewußten Strebens und Wirkens, in dem die Freiheit der Entscheidung eine wesentliche Rolle spielt, weil hier die Qualitäten aller Daseinsbereiche bewußt werden und alle ihre Möglichkeiten gleichermaßen offenstehen, und darüber hinaus die Möglichkeit endgültiger Befreiung vom Kreislauf der Geburten durch Erkenntnis der wahren Natur der Welt.
Hier erscheint daher Avalokitesvara als Buddha Sakyamuni mit Almosenschale und Asketenstab, um denjenigen, "deren Augen mit nur wenig Staub bedeckt sind", den Weg zur Befreiung zu weisen. Aber nur Wenige sind bereit, den Weg zur endgültigen Erlösung zu beschreiten. Die Mehrzahl verstrickt sich in weltlicher Aktivität, im Jagen nach Besitz und Sinnenfreuden, Macht und Ruhm.
Und so steht der Welt menschlichen Tatendranges und stolzer Selbstbehauptung der Bereich unbefriedigter Begierden und machtlosen Verlangens gegenüber. Dies ist im rechten unteren Sektor des Lebensrades dargestellt. Hier zeigt sich die Kehrseite der Leidenschaften im impotenten Verhaftetsein an die Objekte des Begehrens ohne Möglichkeit der Befriedigung dieser Leidenschaften.
6. Die Wesen dieses Bereiches ("Fegefeuer"), Pretas (Tib.: Yi-dvags) genannt, sind die ruhelosen Geister unbefriedigter Leidenschaften, bzw. Ieidenschaftsverhafteter Wesen, die in einer Welt imaginärer Wunschobjekte ein gespensterhaftes, ruheloses Dasein führen. Sie sind Wesen, die ihr inneres Gleichgewicht verloren haben und deren einseitig gerichteter Lebenswille eine dementsprechend unvollkommene, disharmonische Erscheinungsform hervorbringt, die weder die Kraft zu voller materieller Verkörperung noch zu irgendwelcher Art von "Vergeistigung" haben. Sie sind jene Wesen oder Bewußtseinskräfte, die mit den Gläubigen spiritistischer Sitzungen ihr Spiel treiben und die, nach volkstümlicher Vorstellung an die Stätten ihres früheren Daseins und ihrer unerfüllten Wünsche verhaftet (und darum der Gegenstand nekromantischer Beschwörungen) sind. Sie werden dargestellt als gespensterhafte Wesen mit spindeldürren Gliedern und aufgeschwollenen Leibern, die von unersättlichem Hunger und Durst geplagt sind, ohne imstande zu sein, genügend Speise und Trank zu sich zu nehmen. Das Wenige aber, das sie durch die winzige Öffnung ihres dünnen Halses zu sich nehmen können, bereitet ihnen unsägliche Qualen, denn Speise ist ihnen unverdaulich und läßt ihre Leiber aufschwellen und Trank verwandelt sich ihnen in Feuer: ein drastisches Gleichnis für die Natur leidenschaftlichen Begehrens (raga; Tib.: hdod-chags), deren Leiden durch Nachgeben nicht gestillt, sondern vermehrt werden. In anderen Worten: Leidenschaften sind das, was Leiden schafft, weil sie ihrer Natur nach unstillbar sind und jeder Versuch, sie zu befriedigen, zu tieferer Verhaftung und größeren Qualen führt.
Befreiung von solchen leidenschaftlichen Begehren ist nur möglich, wenn es gelingt ihre unheilsamen Objekte durch heilsame zu ersetzen (d. h. kama-chanda, sinnenweltliches Begehren, in dharma-chanda, in Verlangen nach Wahrheit und Erkenntnis zu verwandeln). Der Buddha, in dessen Form Avalokitesvara im Reiche der Pretas erscheint, trägt daher ein Behältnis mit himmlischen Kostbarkeiten (oder himmlischer Speise und himmlischem Trank, die sich nicht in Feuer und Qual verwandeln), welche die Objekte weltlichen Begehrens wertlos erscheinen lassen und die Leiden brennenden Verlangens stillen.
Leseprobe aus dem Buch: "Grundlagen tibetischer Mystik" von Lama Anagarika Govinda (S. 283 - 295)
Link => Der grobstoffliche Körper ist eine schlechte Kopie des wahren Menschen