Endlich eine Wanderkarte!

Von Brentano ging ich die Fifth Avenue zu einer weiteren Buchhandlung hinauf: Doubleday-Doran, wie sie damals hieß. Hier fand ich eine ganze Abteilung von Büchern über indische Philosophie — die erste, die ich je gesehen hatte. Hungrig weideten sich meine Augen an der weiten Auswahl der Titel: die Upanishaden, die Bhagavad Gita, die Ramayana, die Mahabharata, Bücher über Yoga. Ich überflog diese Regale, um dann zurückzukehren und sie noch einmal durchzugehen. Zu meiner Überraschung war diesmal das erste Buch, auf das mein Blick fiel und das aus dem Regal herausstand, eines, das ich beim ersten Mal nicht einmal bemerkt hatte. Das Photo des Autors auf dem Einband bewegte mich sonderbar. Niemals hatte ich jemanden gesehen, dessen Gesicht soviel Güte, Bescheidenheit und Liebe ausstrahlte. Begierig fischte ich das Buch heraus und sah nochmals nach seinem Titel:

 Autobiographie eines Yogi, von Paramahansa Yogananda. Der Autor lebte in Amerika — in Kalifornien! War das endlich jemand, der mir bei meiner Suche helfen könnte? Als ich begann, das Buch durchzublättern, erregten folgende Worte meine Aufmerksamkeit: „Der Erinnerung an Luther Burbank, einem amerikanischen Heiligen, gewidmet.“

 Ein amerikanischer Heiliger? Aber, wie absurd! Wie konnte jemand in diesem Land des „allmächtigen Dollars“ ein Heiliger werden, in dieser materialistischen Wüste? In diesem .. Enttäuscht schloss ich das Buch und stellte es an seinen Platz zurück.

 An diesem Tag kaufte ich mein erstes Buch über indische Philosophie —  nicht Autobiographie eines Yogi, sondern Sir Edwin Arnolds wunderbare Übersetzung der Bhagavad Gita. Gespannt nahm ich diesen Schatz mit mir nach Hause nach Scarsdale, wo ich zeitweise ein Zimmer gemietet hatte. Während der nächsten zwei Tage verschlang ich es förmlich mit einem Gefühl, als würde ich durch weite Himmel reiner Weisheit brausen.

Daran erkennt man ihn (den Weisen), dass liebevoll
Er gegen alle, die ihm nahen, ist;
Ob sie nun Freunde oder Feinde seien,
Bekannte oder Fremde, einerlei,
Ob gut, ob böse; alle liebt er sie.

 Welch wundervolle Worte! Berauscht las ich weiter:

Wer meine Geistesgröße in sich trägt
Und meine schöpferische Kraft erkennt,
Der ist auch eins mit mir, in meinem Wesen
Mit mir vereinigt; daran zweifle nicht.Wer mir in Liebe treu ergeben ist,
Und mich in Wahrheit ehrfurchtsvoll verehrt,
Dem geb' ich gerne meiner Weisheit Kraft,
Und meine Gnade leitet ihn zu mir.In seinem Herzen wohnend, bin ich selbst
Der Wahrheit Licht, das dann sein eigen ist,
Und dessen Kraft die Dunkelheit zerstört,
Die aus der Nichterkenntnis Nacht entsprang.

Auch meine eigenen Zweifel wurden durch diese wunderbaren Worte zerstreut. Ich wusste nun mit völliger Sicherheit, dass dieser Weg für mich der richtige war.

Tags darauf, nachdem ich meine erste Lesung der Bhagavad Gita beendet hatte, kehrte ich nach New York mit der Absicht zurück, zum Hafen zu schauen, um festzustellen, ob ein Schiff hereingekommen war. Ich ging die siebte Avenue in Richtung Untergrundbahn, deren Eingang auf der gegenüberliegenden Seite der nächsten Kreuzung lag, als ich mich des Buches, das ich bei meinem letzten Stadtbesuch so vorschnell abgelehnt hatte, entsann: Autobiographie eines Yogi. Als ich mich an das schöne Gesicht auf dem Umschlag erinnerte, drängte mich ein starkes inneres Verlangen, das Buch zu kaufen. Ich verdrängte den Gedanken fest aus meinem Verstand.

„Das ist es nicht, wonach ich suche“, sagte ich zu mir selbst. Kopfschüttelnd fügte ich hinzu: „Ein amerikanischer Heiliger, wirklich wahr!“ Bestimmt setzte ich meinen Schritt zur U-Bahn fort.

In diesem Augenblick erreichte ich die Ecke. Ich ging zum Randstein hin weiter, als ich eine richtiggehende Kraft spürte, die mich links um die Ecke drehte und zur Fifth Avenue weiterzog. Niemals zuvor hatte ich dergleichen erlebt. Erstaunt fragte ich mich: „Gibt es etwas in diesem Buch, das zu lesen mir bestimmt ist?“ Ohne weiteren Widerstand zu leisten, hastete ich eilig in Richtung Buchhandlung Doubleday - Doran.

Ich betrat das Geschäft, ging geradewegs auf das Buch zu und kaufte es. Als ich im Gehen war, lief ich fast in Doug Burch hinein, einen Freund aus meinen High-School - Tagen in Scarsdale, der mich damals in den Dixieland-Jazz eingeführt hatte. Wir tauschten kurz Neuigkeiten aus. Doug begann, mir in glühenden Worten seine Pläne für eine Rundfunk- und Werbekarriere zu erläutern. Je länger er sprach, desto mehr drückte ich mein immer wertvoller werdendes neues Buch an mein Herz. Auf unglaubliche Weise waren meine Zweifel an ihm bereits geschwunden. Ich fühlte, als ob Yogananda mein Entsetzen über Dougs glänzende Zukunftsbeschreibungen eines Lebensstils, der sich mir als Trostlosigkeit darstellte, teilen würde. Während ich das Buch hielt, kam es mir plötzlich so vor, als ob dieser orientalische Yogi und ich alte Freunde wären. Die Welt und ich waren Fremde, aber hier war jemand, der mich kannte und verstand.

„Autobiographie eines Yogi“ ist die Geschichte der sehnlichen Gottsuche eines jungen Inders. Sie beschreibt eine Reihe lebender Heiliger, die er auf seiner Reise traf, besonders seinen großen Meister, Swami Sri Yukteswar; sie beschreibt auch, klarer als jedes andere mystische Werk, das ich je gelesen habe, die eigenen Erfahrungen des Autors mit Gott samt der höchstmöglichen, samadhi, oder mystische Vereinigung. Kapitel für Kapitel las ich von intensiver Liebe zu Gott, wie ich sie selber zu besitzen verlangte; von einem Verhältnis mit dem Herrn, intimer, inniger, als ich es mir jemals vorzustellen gewagt hatte.

Bis jetzt hatte ich angenommen, dass ein Leben der Hingebung bestenfalls ein wenig Frieden des Verstandes bringen mochte. Aber hier entdeckte ich plötzlich, dass die Frucht eines geistigen Lebens Freude jenseits menschlicher Vorstellung ist. Niemals zuvor war mir ein Geist begegnet, so rein und wahrhaftig, so erfüllt von Güte und Freude. Jede Seite schien in Licht zu erstrahlen. Während ich „Autobiographie eines Yogi“ las, schwankte ich zwischen Tränen und Lachen: Tränen reiner Freude; Lachen noch größerer Freude! Drei Tage lang aß oder schlief ich kaum. Ich ging wie auf Zehenspitzen, als ob ich mich in einem ekstatischen Traum befände.

Was dieses Buch letzten Endes beschrieb, war die höchste der Wissenschaften: „kriya“-Yoga; eine Technik, die den Suchenden befähigt, rapide auf dem Pfad der Meditation fortzuschreiten. Ich, der ich so verzweifelt meditieren lernen wollte, fühlte die ganze Erregung von jemandem, der einen Schatzplan gefunden hat, wobei der Schatz in diesem Fall ein göttlicher ist, der tief in seinem eigenen Selbst begraben liegt!

„Autobiographie eines Yogi“ ist das großartigste Buch, das ich je gelesen habe. Ein einziges Argument in ihm war genug, um mein ganzes Leben zu verändern. Von dieser Zeit an brach ich völlig mit der Vergangenheit. Ich entschied mich, bis ins kleinste Detail meines Lebens der Lehre Paramahansa Yoganandas zu folgen.

Ich war davon überzeugt, in Yogananda meinen göttlichen Lehrmeister für alle kommenden Zeiten gefunden zu haben. Einige Tage zuvor hatte ich dieses seltsame Wort, „guru“ [= Geistiger Lehrer. Das Wort guru wird oft in umfassendem Sinn auf jeglichen verehrten Lehrer erweitert. Auf dem geistigen Weg jedoch bezieht es sich auf den sadguru oder wahren Lehrer — jenen erleuchteten Weisen, der von Gott dazu eingesetzt worden ist, geistig bereite Kinder aus der Dunkelheit und zur Erfahrung höchster Weisheit zu führen. Es steht geschrieben, dass der Sucher viele geringere Lehrer, aber nur einen solch göttlich zugewiesenen guru haben kann.], nicht einmal gekannt. Ich hatte nichts über Yoga gewusst, Reinkarnation, „karma“, oder irgendwelche andere Grundbegriffe indischer Philosophie. Unfassbar, nun fühlte ich solch tiefes Vertrauen in ein anderes menschliches Wesen, dass ich bereit war, ihm bis ans Lebensende zu folgen, obwohl ich so gut wie nichts über seine Prinzipien wusste. Und während unser Zusammentreffen noch bevorstand, fühlte ich ihn in mir als den wahrsten Freund, den ich je gekannt hatte.

Am nächsten Tag packte ich meine Sachen, nahm einen frühen Zug nach New York City und bestieg den nächsten Bus in Richtung Westen.

Mein Bruch mit der Vergangenheit war plötzlich und vollständig.

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Aus: "The Path" von Swami Kriyananda, direkter Jünger Paramahansa Yoganandas