Aus dem Leben von Paramahansa Yogananda
Seine letzten Tage
Ich erinnerte mich an Meisters Vision aus dem Jahre 1920, welche alle ihm bestimmten Jünger umfasste, und fragte ihn im Juni 1950: „Habt Ihr bereits die meisten derer, die Ihr in Eurer Vision in Ranchi gesehen habt, getroffen?"
„Praktisch alle", entgegnete er, „ich warte nur noch auf die Ankunft einiger weniger."
Am 27. November 1951 starb Schwester Gyanamata im Alter von zweiundachtzig Jahren. „Ich habe ihr Leben durchforscht", sagte Meister, „und keine einzige Sünde gefunden, nicht einmal in Gedanken." Wir alle fühlten, dass mit Schwesters Hinscheiden die Zeit herankam, da auch Meister diese Welt verlassen würde. Er selbst gab immer häufiger Hinweise darauf. So bemerkte er zu Dr. Lewis: „Wir haben ein gutes Leben zusammen gelebt. Es scheint, als ob wir uns erst gestern getroffen haben. In einer kleinen Weile werden wir getrennt, aber bald wieder beisammen sein."
Während der letzten eineinhalb Jahre seines Lebens versammelten sich langjährige Jünger um Meister, als ob sie sich irgendwie dessen bewusst gewesen wären, dass sein Ende herannahte. Manche, die ihn aus verschiedenen Gründen jahrelang nicht gesehen hatten, besuchten ihn jetzt. Andere, die ihn noch nicht getroffen hatten, deren Bestimmung es aber war, in diesem Leben zu ihm zu kommen, strömten herbei, als ob sie sich beeilten, bevor es zu spät war.
Speziell während dieser letzten Monate fand er seine größte irdische Freude an jenen Jüngern, die seine göttlichen Erwartungen erfüllten. Des öfteren pries er St. Lynn, Schwester Gyanamata, deren Verewigung ihn so berührt hatte, Daya Mata und andere.
Eines Tages sagte ich zu meinem guru: „Werdet Ihr uns so nahe sein wie jetzt, wenn Ihr einmal gegangen seid?"
„Denen, die mich nahe denken", antwortete er, „werde ich nahe sein." Die letzte Ausgabe des SRF-Magazines, das während Meisters Lebenszeit herauskam, enthielt einen Artikel mit dem Titel „Die letzte Erfahrung". Es war der letzte Beitrag einer Serie von Meisters Kommentaren über Stellen des Neuen Testaments, die durch zwanzig Jahre hindurch fortgesetzt erschienen war. In diesem Heft verbreitete sich Meister über die Worte: „Und Jesus rief laut und sprach: ,Vater ich befehle meinen Geist in deine Hände!’ Und als er das gesagt, verschied er." (Lukas 23:46)
Das perfekte „timing" dieses Artikels war sicher kein Zufall. Es erschien in der Ausgabe März 1952. Meister ging von uns am 7. März 1952.
Einige Tage vor dem Ende stellte ein anderer Jünger Meister die Frage, die ich schon zwei Jahre früher erkundet hatte: „Sind alle Jünger Eures gegenwärtigen Lebens schon zu Euch gekommen, Sir?"
„Ich warte auf zwei oder drei weitere", antwortete Meister.
In jener Woche langten tatsächlich zwei weitere Jünger ein: Leland Standing (jetzt Bruder Mokshananda) und Mme. Erba-Tissot, eine prominente Rechtsanwältin aus der Schweiz, die ihren Beruf nicht lange danach aufgab, um Zentren für Meisters Werk in Europa zu organisieren.
Meister hatte sich auf seinem Retreat in Twenty-Nine-Palms aufgehalten. Er kehrte am 2. März auf Mt. Washington zurück, um Seine Exzellenz, Binay R. Sen, Indiens kürzlich ernannten Botschafter in den Vereinigten Staaten zu empfangen. Eines Abends nach seiner Rückkehr umarmte er uns alle sehr herzlich und segnete uns. Einigen sprach er Worte persönlicher Hilfe zu, anderen die Ermutigung, in ihren Bemühungen stark zu bleiben, anderen wieder gab er den Rat, mehr zu meditieren. Nachher ging ich kurz hinauf, um ihn allein zu sehen.
Meister hatte mich während der letzten dreieinhalb Jahre viele Male zurechtgewiesen, meistens deshalb, weil ich die möglichen Konsequenzen meiner Worte zu wenig bedachte. Ich wusste, dass er oft sagte: „Ich ermahne nur die, die mir zuhören, die anderen nicht", aber in meinem Herzen schlummerte ein gewisser Schmerz. So sehr ich mich bemühte, ich konnte ihn nicht wegrationalisieren. Seit einigen Monaten hatte ich mich nach einigen wenigen Worten seiner Anerkennung gesehnt.
Nun, da er mit mir allein war, schaute er mit tiefer Liebe und voller Verständnis in meine Augen und sagte: „Ich bin sehr zufrieden mit dir. Ich möchte, dass du das weißt." Welche Last fiel von meinem Herzen bei diesen einfachen Worten!
Am Dienstag, den 4. März, besuchte der Botschafter und seine Begleitung Mt. Washington. Ich bediente Meister und seine Gäste in seinem oberen Sprechzimmer. Während ihres Besuches merkte Mr. Ahuja, Indiens Generalkonsul in San Francisco, Meister gegenüber an: „Botschafter mögen kommen und Botschafter mögen gehen. Ihr, Paramhansaji, seid Indiens wirklicher Botschafter in Amerika."
Dienstag abends, am 6. März, kehrte Meister von einer Ausfahrt mit dem Wagen zurück. Er bat Clifford Frederick, den Fahrer, ihn hinter Mt. Washington zum Rome Drive zu bringen. Dort bemerkte er leise, auf das Hauptgebäude blickend: „Es schaut wie ein Schloss aus, nicht wahr?"
Die Mönche hatten gerade gemeinsam die Energetisierungsübungen beendet, als Meister die Einfahrt hereinkam. Als wir uns um ihn versammelten, berührte er segnend jeden von uns. Dann sprach er ausführlich über einige verschiedene Arten von Delusionen (Täuschungen), denen der devotee auf dem Pfad unterliegt.
„Verschwendet nicht eure Zeit", sagte er. „Niemand kann euch das Verlangen nach Gott verschaffen. Das ist etwas, das ihr für euch selbst kultivieren müsst.
Macht keine große Sache aus dem Schlaf. Das ist der unterbewusste Weg, um mit Gott Kontakt aufzunehmen. Meditation ist der Zustand jenseits des Schlafes - Überbewusstsein im Gegensatz zum Unterbewusstsein. Verwendet nicht zu viel Zeit zum Scherzen. Ich für meinen Teil lache gerne, aber ich habe meinen Sinn für Humor unter Kontrolle. Wenn ich ernst bin, kann mich niemand zum Lachen bringen. Seid heiter und fröhlich im Inneren - gesetzt, aber immer munter. Warum eure spirituellen Erfahrungen in nutzlosen Worten vergeuden? Wenn ihr die Schüssel eures Bewusstseins mit der Milch des Friedens gefüllt habt, behaltet dies so bei; bohrt keine Löcher hinein, durch Spaßen und überflüssiges Reden.
Verschwendet keine Zeit mit Ablenkungen - die ganze Zeit lesen und so fort. Wenn Lektüre instruktiv ist, ist sie natürlich nützlich. Aber ich sage den Leuten: Wenn ihr eine Stunde lest, dann schreibt zwei Stunden, denkt drei und meditiert die ganze Zeit. Egal, wie beschäftigt mich diese Organisation hält, ich lasse niemals von meinem täglichen Rendezvous mit Gott."
Im Keller sah er einige Minuten später eine Kiste grüner Kokosnüsse, die gerade von einem devotee aus Florida eingetroffen waren. „Noch beim Auto versuchte mir die Göttliche Mutter mitzuteilen, dass diese Kokosnüsse gekommen waren, aber ich hörte nicht hin - ich redete zu viel!" Meister lachte vergnüglich und öffnete eine Kokosnuss, um aus ihr zu trinken. Die Situation erschien jedoch irgendwie unwirklich. Ich blickte in seine Augen. Sie waren tief, still, völlig unberührt von dem, was er tat. Im Rückblick erscheint sein Ausdruck als jemandes Innigkeit, der uns Lebewohl sagte, ohne es sich anmerken lassen zu wollen.
„Ich habe einen großen Tag morgen", sagte er. Als er zum Aufzug ging, hielt er bei der Tür inne und wiederholte abermals: „Ich habe morgen einen großen Tag. Wünsch mir Glück!"
Am folgenden Tag, dem 7. März, kam er herunter, um auszugehen. Er hatte vorgesehen, an diesem Abend einem Bankett im Hotel Biltmore zu Ehren des indischen Botschafters beizuwohnen. „Stell dir vor", sagte er zu mir, „ich habe ein Zimmer im Hotel Biltmore genommen. Das ist dort, wo ich in dieser Stadt angefangen habe!"
Plötzlich wurde er ganz ernsthaft. Und wieder diese Bitte: „Wünsch mir Glück."
Jahre zuvor hatte Meister gesagt: „Wenn ich diese Erde verlasse, möchte ich es tun, während ich über mein Amerika und mein Indien spreche." Und in einem Lied über Indien, das er zur Melodie des bekannten Songs „Mein Kalifornien" verfasste, schrieb er das Ende dieses beliebten Liedes um und verwendete die Worte: „Ich weiß, wenn ich sterbe, werde ich mein Leben in Freude über mein sonniges, großes altes Indien aushauchen!" Einmal stellte er auch in einem Vortrag fest: „Ein Herzanfall ist der leichteste Weg des Sterbens. Den habe ich für meinen Tod gewählt." An diesem Abend erwiesen sich all diese Voraussagen als wahr.
Meisters Rede war nach dem Bankett angesetzt. Seine kurzen Worte waren so süß, fast zärtlich, dass ich glaube, jeder der Anwesenden fühlte sich vom Gazenetz seiner Liebe umfangen. In warmen Tönen sprach er über Indien und Amerika und ihre jeweiligen Beiträge zum Weltfrieden und zu wahrem menschlichen Fortschritt. Er sprach über ihre zukünftige Zusammenarbeit. Zum Schluss las er sein wunderschönes Gedicht „Mein Indien".
Während seiner Rede war ich damit beschäftigt, seine Worte aufzuzeichnen und hielt meine Augen auf das Notizbuch gerichtet. Er kam zu den letzten Zeilen des Gedichts:
Wo Ganges, Wälder, Himalayische Höhlen und Menschen Gott träumen.
Ich bin geheiligt; mein Körper spürte diese Erde!
„Erde" wurde ein langgezogener Aushauch. Plötzlich gab es ein Kreischen von allen Seiten des Raumes. Ich schaute auf.
„Was ist los?" bedrängte ich Dick Haymes, ein populärer Sänger und Filmschauspieler, der kürzlich von mir Kriya-Einweihung empfangen hatte, und auf Meisters Wunsch neben mir saß. „Was ist geschehen?" „Meister ist zusammengebrochen", antwortete er.
O nein, Meister! Du würdest doch nicht zusammenbrechen. Du hast uns verlassen. Du hast uns verlassen!
Ich eilte zu der Stelle, wo Meister lag. Ein Ausdruck des Segens zeichnete sein Gesicht. Virginia Wright war über ihn gebeugt und versuchte verzweifelt, ihn wieder zubeleben. Mr. Ahuja, der Generalkonsul, kam zu mir herüber und legte seinen Arm um meine Schultern. (Niemals, lieber Freund, werde ich diesen Akt der Herzlichkeit vergessen!)
Sie brachten Meisters Körper auf Mt. Washington und legten ihn liebevoll auf sein Bett. Nacheinander gingen wir hinein und knieten weinend an seinem Bett.
„Mutter!" rief Joseph. „Oh, Mutter!" Meister war in der Tat eine Mutter zu uns allen gewesen - und wieviel mehr als eine Mutter! „Wieviele tausende von Jahren wird es brauchen", fragte sich ein anderer Jünger, der ihn still und voll Ehrfurcht anblickte, „um soll ein Gesicht der Vollkommenheit zu schaffen!"
Später, als wir den Raum verlassen hatten, blieb Daya Mata allein bei Yoganandas Körper zurück. Als sie ihn anschaute, formte sich eine Träne aus seinem linken Augenlid und lief langsam seine Wange hinunter. Liebevoll fing sie dieses letzte physische Pfand seiner göttlichen Liebe mit ihrem Taschentuch auf.
Im Tod wie im Leben, sagte er seiner geliebten Jüngerin, und durch sie dem Rest von uns: „Ich liebe euch immer, durch endlose Zyklen der Zeit, bedingungslos, ohne jegliches Verlangen - außer nach eurem immer währenden Glück in Gott!"
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Aus: "The Path" von Swami Kriyananda, direkter Jünger Paramahansa Yoganandas